Dienstag, 19. Dezember 2023
Bei dem Regen hat man gar nicht so richtig Freude an der weihnachtlichen Beleuchtung, die das Magniviertel jetzt in der Vorweihnachtszeit schmückt. Und wie schön es aussieht: Lichterketten quer über der Kopfsteinpflasterstraße, Lichterketten in den Bäumen, beleuchtete Deko in den Lampen, Licht auf dunklem Wege, Weihnachtsduft in jedem Raum, und klar, auf nassen Pflastern spiegeln sich die Lichter noch mehr, das ist schon schön, aber vor lauter Kapuze und Regenschirm im Sichtfeld nimmt man es kaum richtig wahr. Da war der Wechsel vom November zum Dezember schon winterlicher, Schnee und Minusgrade, pünktlich zur Eröffnung des Weihnachtsmarktes, so hätte es gern bleiben dürfen.
Vielleicht wird es ja nächste Weihnachten anders, und das bringt mich zu meinem Anliegen: Jedes Jahr im Dezember stelle ich den Menschen, denen ich im Riptide begegne, eine Frage zum Jahreswechsel, und da 2023 nicht eben als gutes Jahr in die Geschichtsbücher eingehen wird, lautet meine Frage dieses Mal: Was wird nächstes Jahr besser?
Die erste, die diese Frage zu hören bekommt, ist Mihaela, die das Michelle Kosmetikstudio am anderen Ende des Magnikirchplatzes betreibt: Ölschlägern 16 ist die Adresse eines Eckhauses, in dem Mihaela ihr Studio einrichtete. Als sie mir die Tür öffnet, begrüßt mich Bruno, ein puscheliger kleiner weißer Bichon Frisé, der eine eher katzen- als hundeartige Anmutung hat, so verkuschelt, wie er um meine Beine streift und darum bittet, gestreichelt zu werden, was ich natürlich sofort mache. „Seit vier Jahren ist er hier, er ist adoptiert“, erzählt Mihaela. Sei übernahm Bruno „von einer alten Frau“, beachtliche elf Jahre ist er schon alt.
Aus Rumänien kommt Mihaela; die Französische Version ihres Vornamens wählte sie für ihr Kosmetikstudio, weil sie bekannter ist. „Mulțumesc“ immerhin fällt mir aus meiner Zeit im Krankenhaus in Petroșani noch ein, „danke“, obwohl die Leute damals eher „merci“ sagten, und Mihaela nickt zustimmend. Der Empfangsbereich, in dem wir drei uns aufhalten, ist riesengroß, das würde man selbst durch die großen Schaufenster von außen nicht erwarten, wie hoch hinaus es hier noch geht, die Decken sind doppelübermannshoch, die Wände sind weiß getäfelt, zwei cremeweiße Sessel in Muschelschalenoptik flankieren einen Tisch, ein kleiner Schreibtisch befindet sich an einem der großen Fenster, ein Garderobenständer trägt einen winterlichen Mantel, etwas Kunst hängt an einer Wand, ein Kronleuchter setzt alles in sepiasanfte Szene, im Hintergrund ist der schmale Durchgang zum eigentlichen Behandlungsraum zu erkennen, aus dem es hell herausstrahlt – dazwischen: Raum, Platz, Freiheit.
Kosmetik sei, so Mihaela, „ein großer Begriff“, hinter Termini wie Fußpflege, Maniküre und Gesichtsbehandlung verbergen sich unzählige Einzelmaßnahmen, darunter „Augenbrauen, Anti-Aging-Behandlung, Collagen-Behandlung“ und vieles mehr. All das geschieht in dem von hier aus klein wirkenden Raum hinter ihr. Unter dieser Adresse arbeitet Mihaela seit sechs Jahren, seit 2017, „vorher war ich woanders, im Viertel bin ich seit zehn Jahren“. Das Magniviertel findet sie „schön, es ist der tollste Arbeitsplatz der Welt“, sagt sie erfreut. „Ich mag die Diversität“, betont sie und zählt auf, aus welchen Ländern die Nachbarn so kommen: „Das ist sehr, sehr schön.“ Nur selten war Mihaela bisher im Riptide, „ein, zwei Mal war ich da, einmal mit meiner Tochter“, erzählt sie, denn wenn ihre Zeit es einmal zulässt, dass sie sich in ein Café setzen kann, dann betritt sie die Kaffeezeremonie einige Häuser weiter: „Das waren meine Nachbarn vorher, ich bin da geblieben.“
Mihaela betont: „Für mich ist das Magniviertel ein Highlight.“ Versonnen lächelt sie bei der Erinnerung, als sie vor 15 Jahren nach Braunschweig kam: „Im Sommer danach kam ich hier her, ich kannte dieses Viertel nicht – Sommer, die Kirche, die Sonne, ich ging rein und dachte: Wo bist du denn hier gelandet?“, schwärmt sie. „Ich habe es geliebt und hätte nie geträumt, dass ich hier arbeiten würde.“ Sie strahlt: „Es ist das schönste Viertel.“
Nun ist Mihaela die erste, die meine Frage beantwortet. Sie bleibt dabei unbestimmt und philosophisch: „Wir glauben, alles wird besser“, sagt sie. Es liege an den Plänen, die man fasst, und „wie wir uns einstellen“. Sie zuckt lächelnd mit den Schultern: „Alles, was wir haben, könnte besser sein – warum nicht?“ Das klingt eigentlich eher zufrieden mit der grundsätzlichen Offenheit für eine positive Entwicklung, ein schöner Abschluss. Wir verabschieden uns, Bruno bekommt den Kopf gekrault und ich kehre zurück in den Dezemberregen.
Der missfällt Tuana und Antea, die ich im Riptide hinter der Theke antreffe, ebenso sehr wie mir. „Wenn es schon Winter ist, dann soll es kalt sein“, findet Antea, und auch Tuana erwärmt sich für Kälte und Schnee. Antea greift nach Tellern mit Speisen, die sie aus der Küche gereicht bekommt, und bringt sie zu den Gästen, daher beantwortet mit Tuana hier als erste meine Frage: „Das Wetter auf jeden Fall, es wird wärmer“, grinst Tuana zuversichtlich. Eine Veränderung für ihr Leben hat sie bereits angeschoben: „Ich fange mit dem Studium an, im August, dann bin ich näher bei meiner Schwester, wir wohnen dann zusammen, dafür wohne ich nicht mehr in meinem Elternhaus.“ Ihr Vertrag im Ritpide läuft demnächst aus, „das ist schade“, bedauert sie, aber: „Das ist eine neue Chance, eine neue Gelegenheit, etwas Neues zu machen, in Kiel, wo ich studieren werde, oder im Ausland, ich habe einen Job angeboten bekommen, in Lissabon.“ Dahin würde sie „auch wegen der Sprache“ gern gehen: „Ich habe angefangen, das zu lernen.“ Sie lächelt: „Ich freue mich.“ Und sinniert: „Einen anderen Job haben, was erfrischend ist – ich werde das Riptide trotzdem vermissen.“ Ihr Wunsch ist es, zur Landespolizei zu gehen und dort ein Duales Studium für den Gehobene Dienst anzutreten: „Das geht in Schleswig-Holstein nur in Kiel.“ Da sie bei einer Landespolizei nur innerhalb des Landes umsiedeln dürfe, in dem sie den Abschluss macht, muss sie sich vorab für das geeignete Bundesland entscheiden, und da ist für sie klar: „Ich will im Norden bleiben.“
Jetzt fordern andere Gäste Tuanas Aufmerksamkeit ein, Antea ist auch noch im Café unterwegs, da begrüßt mich Chris hinterrücks. Eigentlich ist er bereits im Feierabend, bittet mich aber, ihn ins Büro im zweiten Stock zu begleiten. Das mache ich natürlich gern, hier war ich seit über drei Jahren nicht mehr. Das Büro sieht aus wie ein Büro eines Restaurants und Plattenladens, also lebendig und bunt. Chris setzt sich auf seinen Drehstuhl und beantwortet meine Frage mit einem umfassenden „hoffentlich alles“. Er wird ernst: „Für mich und meine Liebsten und alle, die ich mag, wünsche ich, dass es ihnen gutgeht“, sagt er, und stellt fest, dass er ihnen das ja grundsätzlich wünscht. „Ich hoffe, dass in der Ukraine und in Israel die Konflikte gelöst werden, habe aber Zweifel.“ Für ihn selbst verbessert sich ein bestimmter Aspekt: „Ich werde zum ersten Mal seit dreieinhalb Jahren in den Urlaub fahren, ich freue mich schon.“ Der kurze Ausflug nach Südamerika zu den Toten Hosen im vergangenen Jahr war so stressig und hektisch, dass es sich um keinen Erholungsurlaub handeln konnte, und von genau so etwas spricht Chris hier. Immerhin: „Das war das totale Chaos, aber wegen der Toten Hosen sensationell“, erinnert er sich. Im Riptide stehen jetzt die Kulturveranstaltungen an, die wegen der Lockdowns in den zurückliegenden drei Jahren ausfallen mussten, auch das ist eine Verbesserung. Jetzt am Samstag steigt beispielsweise die Weihnachtsfeier: „Ich hoffe, dass die Hütte brennt“, sagt Chris. Gleich steht seine nächste Verabredung an, er sucht mir noch die CD des Progrock-Trios Echofield heraus, die mir sein Mitabiturient Micha alias Fritz mir versprochen hatte und die nun bei Chris hinterlegt ist, damit Guido und ich darüber eine Rezension für KrautNick verfassen können. Wir steigen die Treppen herab, Chris biegt in Richtung Theke ab und ich begebe mich an meinen Platz am Fenster, mein Burger erwartet mich dort.
Am Nachbartisch sind Mayumi und Philine ins Gespräch vertieft und trotzdem offen für meine Frage. „Was ich gut finde, ist, dass Braunschweig sich mehr damit beschäftigt, für die Menschen etwas zu machen“, beginnt Philine. Nur durch das Internet, so berichtet sie, erfuhr sie überhaupt von der Existenz des Café Riptide und ist seitdem regelmäßiger Gast. Eigentlich kommt Philine aus Salzgitter und beschäftigte sich zunächst nicht so sehr damit, „wie es in Braunschweig in den kleinen Straßen aussieht“, bedauert sie. Erst die virtuelle Selbstpräsentation solcher Kleinode wie diesem erweiterte ihren Horizont: „Ich bin froh, dass Braunschweig etwas dafür macht, dass es bekannter wird.“ Sie habe von Plänen gehört, den Platz vor den Schlossarkaden umzugestalten und dort mehr Gastronomie einzurichten, um die Stadt attraktiver zu machen und auch mehr anbieten zu können, das allen zugutekommt: „Dass sie sich überhaupt damit beschäftigen, finde ich cool.“
Gleich „zwei Themen im Kopf“ hat Mayumi. Das erste ist „das Inflationsproblem, ich finde das mit den Preisen schwierig, die Leute kommen nicht zurecht und kommen an die Armutsgrenze – es wird sich zwar damit beschäftigt, aber nicht genug“, findet sie. So würden etwa Freizeitaktivitäten immer kostspieliger und nicht mehr für alle erschwinglich. „Das andere Thema ist die Politik“, fährt sie fort: Der Zuwachs der AfD bereite ihr „dolle Angst“, sie wundert sich: „Hat Deutschland nicht aus seinen Fehlern gelernt, warum werden die anderen Parteien nicht gewählt?“ Beides also Aspekte, in denen es besser werden muss, ohne dass es spürbar danach aussieht, dass dies auch geschieht. Aber die beiden haben Hoffnung. Ich überlasse Philine und Mayumi nun wieder ihrem intensiven Gespräch und ihren Getränken.
Einen Tisch weiter macht sich John gerade auf, das Riptide zu verlassen, als ich ihn mit meiner Frage aufhalte. „Dass ich freier leben kann, dass ich nicht mehr gefesselt bin“, sagt er sofort. Ich ahne etwas, und John bestätigt, dass er zurzeit seine Drogensucht bekämpft, die ihn seit einem Viertel seines nicht einmal zwanzigjährigen Lebens im Griff hält. „Dass ich für mich selber leben kann“, setzt er nach. Im Januar, Februar tritt er eine halbjährige Langzeittherapie an: „Ich denke, dass nächstes Jahr ein gutes Jahr wird.“ Aus Braunschweig wegziehen könne außerdem helfen. Und er möchte seine Erfahrungen dann weitergeben können und etwa in einer Entzugsklinik arbeiten: „Ich habe immer jemanden gebraucht, mit dem ich reden konnte – der möchte ich für andere sein.“ So, wie John damit umgeht, strahlt er die größtmögliche Zuversicht aus. Sein Vorhaben ist schaffbar, das weiß ich aus meinem Umfeld, auch wenn es schwierig wird, was John klar ist, doch man sieht es ihm an: Er will die Veränderung. Und jetzt will er los, daher verabschieden wir uns.
Meine Frage beantworten Lena und Emilie, die in der Ecke am langen Tisch sitzen, spontan unisono mit „alles“ und lachen. „Dieses Jahr war sehr stressig, es kann nur besser werden“, findet Lena. Ihr Start an der Uni habe diesen Stress ausgelöst, den sie sich gemildert wünscht: „Das ist meine große Hoffnung.“ Emilie nickt: „Ich glaube auch insgesamt, das letzte Jahr hat mir nicht so gut gefallen.“ Lena stimmt zu: „Dadurch merkt man auch, man nimmt sich nächstes Jahr mehr Zeit für Sachen, zum Beispiel abends mit Freunden essen gehen.“ Emilie wirft ein: „Mehr Burger!“ Sie lachen und widmen sich dem Genannten.
Etwas nüchtern beantwortet Uwe am anderen Ende des langen Tisches meine Frage: „Es wird mit Sicherheit nichts besser“, ist er überzeugt. „Nichts wird besser, was die Regierung angeht.“ An anderer Stelle hat er mehr Hoffnung: „Im Riptide wird es besser, es kommen mehr Leute, ein internationaleres Publikum, ich habe Gespräche auf Englisch geführt, auch auf Spanisch, weil ich aus der Gegend komme.“ Das Riptide habe eine beruhigende Wirkung auf ihn, an der er sich ein Beispiel nehmen will: „Ich möchte selbst in die Gastronomie.“ Seinen Namen, bemerkt er abschließend, nennt er immer zweimal, also Uwe-Uwe, seit er den gleichnamigen Song von den Wallerts gehört hat. Ein schöner Ohrwurm: „Er hat ‘nen Doppelnamen“, den wird man nie wieder los, weiß ich aus eigener Erfahrung.
Damit der Kreis sich schließt, ist Antea die letzte, die sich für dieses Mal meiner Frage widmet, während sie meine LP abrechnet: „Topsy-Turvy“ ist angekommen, das neue Album von Freiwillige Selbstkontrolle – oder auch F.S.K. – aus München, deren Gitarrist Justin seit Ewigkeiten der Vorsitzende des Wolfsburger Kunstvereins ist. „Ich bin fertig mit der Schule“, beginnt Antea, „endlich ein Stück Freiheit für mich, aber gleich ganz viel Veränderung.“ Solche wie: „Ich plane zum einen, mehr hier zu arbeiten, und auch intensiver ins Berufsleben reinzuschnuppern als nur zu minijobben.“ Und auf der anderen Hand: „Ich plane, mehr zu reisen, das ist ein großer Traum: Reisen, wenn ich mit der Schule fertig werde.“ Dazu würde sie „ein bisschen für mich selber rumbummeln“, aber auch „Freunde besuchen“, zum Beispiel einen, der nach Lettland auswandert, oder ihren Bruder in Neuseeland, „den werde ich nächstes Jahr mal besuchen“. Sie nickt: „Das wird auf jeden Fall gut, weil: Veränderung ist immer gut.“
Die große Hoffnung dabei ist, dass es eine Veränderung zum Guten wird. Mir würde es schon ausreichen, wenn ich nicht wieder krank würde, sobald eine Band, deren Platten ich bereits im Regal stehen habe, mal in der Nähe spielt: Mein zweites Mal Zweistrichigkeit vereitelte mir vor zwei Wochen gleich zwei solcher Konzerte innerhalb einer Woche. Die Flynotes aus St. Petersburg waren im Spunk, was ich denen ich noch vermittelt hatte: Bandkopf Roman, den ich über KrautNick virtuell kenne und der nach Kriegsausbruch aus Russland geflüchtet war, fragte mich nach Gigs, und ich verknüpfte ihn mit Holger vom Spunk. Roman hatte sogar die LP „The Goddess Of Sunrise“ für mich dabei, die darf ich mir nun demnächst aus dem Spunk abholen, dem neuen im Füllerkamp. Zwei Tage später spielten Afsky anlässlich des zehnten Geburtstags von Nils‘ Konteragentur Moth & Light im Nexus, und Ole, der das Projekt betreibt, hatte die LP „I stillhed“ mit, die ein Paketzusteller vor anderthalb Jahren an ihn zurückgeschickt hatte, weil ich angeblich unbekannt verzogen war. In der Zeit danach kam es in Kopenhagen aus Zeitgründen zu keinem Treffen, und als er im vergangenen Jahr in Kiel spielte, war ich ebenfalls krank. Dann trat er jetzt also nur fünf Minuten zu Fuß von mir entfernt auf und ich war gezwungen, ihn zu verpassen. Die Platte drückte er Nils in die Hände, der sie mir am Folgetag vorbeibrachte, mit gebührendem Abstand. Eine Linderung immerhin. Das also wird hoffentlich nächstes Jahr besser: Mehr Gesundheit allenthalben, bitte!
Matthias Bosenick