#196 Castro und Pollex

Donnerstag, 18. Januar 2024

Heute hat Marcel Pollex einen Auftritt im Café Riptide, die erste Nicht-Konzert-Kulturveranstaltung seit dem Umzug, also in den neuen Räumen im Magniviertel. Chris kündigte schon an, dass es mit Kultur jetzt wieder losgeht, nach all den Lockdowns und sonstigen Einschränkungen. Es gibt bereits Quiz-Nächte und Whisky-Tastings, und nun eben eine – na, Lesung? Performance? Marcels Auftritte lassen sich nicht kategorisieren, sicher ist nur, dass es keine Comedy ist, obwohl es in seinen Realitätsspiegelungen viel zu lachen gibt, was einem bisweilen auch gern mal im Halse stecken bleibt.

Vor meinem Weg ins Magniviertel lege ich einen ersten Stopp im Café MokkaBär am Frankfurter Platz ein und tanke heiße Getränke für diesen Wintertag, den ich in der Arbeitspause vorhin sogar auf dem zugefrorenen Kreuzteich verbrachte, auch ohne Schlittschuhe ein Erlebnis. Wenn es hier auch nicht so winterlich zugeht wie etwa im Rheinland – die Familie meiner Schwester schickte mir Fotos aus Bonn, die den Eindruck vermitteln, als hielten sie sich in einer anderen Zeit und einer anderen Welt gleichzeitig auf. Als ich vor zwei Wochen dort war, sah es noch ganz anders aus: grau – und nass, denn der Rhein war weit über seine Ufer getreten. Das ist er jetzt nicht mehr, aber dafür sind die Uferpromenadenwege jetzt allesamt tief verschneit. Das Braunschweiger Hochwasser hat sich derweil ebenfalls etwas zurückgezogen, sehe ich auf dem Weg ins Magniviertel am Kiryat-Tivon-Park: Der Teich, der überraschenderweise noch keinen Namen trägt, ist immer noch über seine Ufer getreten, aber nicht mehr so stark mit der Oker verflossen wie zum Jahreswechsel. Gefroren ist er indes, was auch ansehnlich ist.

Meine zweite Etappe führt mich zum Woonwinkel, Julia informierte mich vorhin, dass meine Bestellung angekommen ist. Vor der Tür treffe ich Rainer, den Hermes-Boten, dem ich schon seit 20 Jahren immer wieder im Stadtgebiet treffe und der seit diesen 20 Jahren den Eindruck macht, eigentlich kurz vor der Rente zu stehen, doch zieht er unablässig seine Kreise durch die Stadt. Kürzlich begegnete ich ihm unbeholfen mit dem Allgemeinplatz „alles gut?“, und er entgegnete das Richtige: „Alles gut, alles gut, wie kann denn alles gut sein, es ist nie alles gut!“ Recht hatte er und vergrub sich, nachdem wir beide darüber gelacht hatten, in seinem Zustellfahrzeug.

Mit Julia, die Rainer ungefähr ebenso lang kennt wie ich, vertiefe ich mich in die Besonderheiten der Niederlande. Aus ihrer Leidenschaft machte sie ihr Einrichtungsgeschäft und ich aus meiner immerhin ein Reiseziel, das ich gern ansteuere und das ich zusammen mit Andrea entdeckte. Wenn man sich erst spät im Leben begegnet und bereits ausformuliert ist, sind solche gemeinsam entwickelten Vorlieben ein schönes Geschenk, das man sich selbst macht. Außerdem erzählt mir Julia noch, dass ein Freund die früheren Räume der Busenfreundin gegenüber vom Riptide neu bespielt: Eine Vintage-Galerie zieht dort ein, am 27. Januar ist Eröffnung.

Nur wenige Schritte weiter gelange ich in den Salon der Haarpoeten, gelegen in der Schloßstraße 8. Saskia begleitet mich hinein, sie hat ihre Pause beendet und stillt nun von hinter der Empfangstheke aus meine Neugier bezüglich dieses fürs Riptide neuen Nachbarn. „Die Haarpoeten hatten vorher einen anderen Standort, am John-F.-Kennedy-Platz, da war ich aber noch nicht da“, beginnt sie. Damals teilten sich die beiden Chefs Caro und Benno, den Saskia Benni nennt, die Räume mit einem Waxing-Studio, „dann sind wir hierher umgezogen“. Da dies vor ihrer Zeit geschah, vergewissert sich Saskia bezüglich Daten und Fakten bei Caro, die hinter der Wand zur Theke eine Kundin versorgt und die ich beide von meinem Standort aus nicht sehen kann. Nach kurzem Austausch kehrt Saskia zurück und vergenauert: Die Haarpoeten eröffneten am 1. September 2012 am alten Standort und residieren seit abermals dem ersten September, aber 2014, im Magniviertel. „Die andere Lokalität hat sich aufgelöst“, begründet Saskia den Ortswechsel. „Jetzt sind wir zu sechst mittlerweile“, ergänzt sie, „ein relativ junges Team“, und fügt nachdrücklich an: „Wir sind ein queerer Salon, das ist uns wichtig!“ Das fällt auf, entsprechende Schilder und Flaggen geben dezente Hinweise, stelle ich fest, und Saskia lacht. „Im Prinzip kann jeder hier herkommen“, sagt sie, und berichtet, dass manchmal ältere Frauen anrufen und fragen, ob sie auch kommen dürften. „Jeder darf!“, betont Saskia. Sie lacht, als sie die Anfragen zitiert: „Könnt ihr auch einen Standardhaarschnitt? Ich möchte keine bunten Haare!“ Selbstverständlich können die Haarpoeten das.

Im Jahr 2021 gestalteten die Haarpoeten ihren Salon komplett um, erzählt Saskia: „Wir haben neue Bedienplätze bekommen und eine wunderschöne Wand.“ Drei kreisrunde Tische mit Spiegelsäulen und je vier dunklen Sesseln davor befinden sich im hellen Raum verteilt, einer davon eben hinter der Wand mit den Regalen voller Pflegeprodukte hinter Saskia. Alle Wände sind weiß, manche Elemente in Richtung Decke in zarten Grau gehalten. Die gegenüberliegende Wand indes ist bunt, ein Hase mit einem Föhn surft auf einer türkis-pink-lila Welle. Ein Braunschweiger Künstler habe die gestaltet, sagt Saskia, und am Stil erkenne ich, dass es sich um Pinky-Ponko handeln müsste. Saskia bestätigt: „Darauf sind wir sehr stolz!“ Zwei Aspekte verbinden Leute mit den Haarpoeten, sagt Saskia: Die bunte Wand – und „da, wo der süße Hund im Schaufenster liegt“. Links um die Ecke, hinter der Garderobe und vor einem der Bedientische, an dem ein Kollege eine Kundin frisiert, kuschelt sich Wilson auf seinem Sofa ein. Jetzt ist er so neugierig wie ich, erhebt sich, kommt herübergedackelt und schnuppert an meiner Hand.

Im Riptide war Saskia „schon ein paarmal“, stellt dabei aber fest: „Früher öfter, bevor es umgezogen ist – irgendwie komisch.“ So ist das manchmal mit den leicht erreichbaren Zielen, ihre ständige Verfügbarkeit lässt sie in die Ferne rücken. Weiter weg gelegene Etablissements plane man vielmehr, sie zu besuchen, und unternehme dies dann auch, sagt Saskia. Sie betont noch: „Bei uns ist es nicht so hierarchisch, die Struktur, wir sind alle miteinander befreundet“, dann verabschiedet sie sich, ihre anfallenden Aufgaben zu erfüllen. Im Internet sehe ich später, dass sich das Team auf Fotos präsentiert wie eine Band; die Fotos klingen nach einer Mischung aus Abba und Death Metal. Caro, die mit ihrer Kundin derweil neben uns einen neuen Termin vereinbarte, übernimmt.

„Das Magniviertel ist großartig“, ruft Caro gleich aus, als ich nachfrage, ob sich der Standortwechsel gelohnt habe. „Florentine war hier vorher drin“, die Blumenhändlerin, die jetzt nun wenige Meter weiter am Ölschlägern zu finden ist, und die Haarpoeten übernahmen ihre alten Räume. „Da waren wir sehr glücklich drüber und möchten hier auch nicht weg“, sagt Crao. Aus ihr strahlt dieselbe Begeisterung, wie ich sie bei allen Geschäftsinhabenden im Magniviertel wahrnehme. „Es ist ein Szeneviertel, kann man das so nennen?“, überlegt sie und passt ihr Attribut an: „Es ist ein besonderes Viertel, ich bin sehr glücklich, wie sich das entwickelt hat – als ich vor 20 Jahren nach Braunschweig kam, war das hier tot.“ Sie schwärmt davon, dass hier „alternative Läden“ angesiedelt seien: „Als das Riptide hier herkam, hab ich gejubelt!“

Da sie sich nun an die nächsten Kunden wendet, verabschieden wir uns und ich begebe mich ins Riptide. Marcels und Chris‘ Stimme höre ich vom Obergeschoss herab, sie besprechen offenbar den Aufbau. Bei Patricia bestelle ich einen Burger und ein Wolters, da kommt Chris die Treppe herunter. „Es ist das erste Mal“, strahlt er, dass es im neuen Riptide eine Kulturveranstaltung dieser Art gibt. „Marcel ist da, wir haben den Raum organisiert und er ist auch damit einverstanden“, freut er sich.

Gleichzeitig hat Chris jedoch auch eine traurige Nachricht: „Frank Z. ist gestorben.“ Die Info, dass der Sänger von Abwärts nicht mehr lebt, erhielt er im Social Media von anderen Künstlern, die dies teilten. „Ich habe Abwärts zweimal live gesehen“, erzählt Chris. Ich nur einmal, im Merz und mit Rod von den Ärzten. Chris staunt und berichtet: „Ich mit Bad Religion, da waren sie“, Chris überlegt kurz, „ja, Vorprogramm.“ Vor drei Wochen starb Torsun von Egotronic, füge ich an, was ich erst diese Woche aus Social Media erfuhr. „Ich hab‘s direkt an Silvester mitbekommen“, sagt Chris. Von einer konkreten Freundschaft möchte er zwar nicht sprechen, aber: „Wir sind uns so oft über den Weg gelaufen!“ Nicht nur bei der Lesung, die er mit Musikjournalist Linus Volkmann im Nexus veranstaltete – mit dem Label Audiolith verbindet Chris eine Menge.

Patricia weist mich darauf hin, dass der Burger, den sie soeben an Chris und mir vorbeiträgt, für mich bestimmt ist, und ich begleite sie an meinen Platz am Fenster. Durch das sehe ich schon, dass Dominik gleich reinkommen wird, und so ist es auch, er begrüßt mich auf seinem Weg zur Theke, seinem Arbeitsplatz also. Ich bleibe nicht allein, Marcel setzt sich zu mir, wir unterhalten uns über anstehende Veränderungen und Entwicklungen im privaten Bereich und wie wir denen und dem sich daraus ergebenden Alltag jeweils frohen Mutes begegnen wollen. Da er wegen seines Auftritts noch einiges vorzubereiten hat, verlässt er mich bald wieder, und nach und nach bekomme ich neue Gesellschaft von Eileen, Ulli und Pott. Patricia bringt Suppe, Erdnüsse im Glas mit Löffel und Getränke an unseren Tisch. Als Pott und ich uns über Krankenkassen unterhalten, beschwert sich Ulli, weil sie parallel mit Eileen und dem hinzugetretenen Jan gerade über neues Leben spricht, also etwas Positiveres als Krankheiten. Wir sind allesamt so vertieft, dass wir beinahe den Beginn der Veranstaltung verpassen, doch so lang die Gattin des Künstlers unter uns weilt, wird er ja wohl nicht beginnen.

Am Fuß der Treppe übernimmt Chris den Einlass, und als Eileen, Pott, Ulli und ich oben ankommen, sind wir mit einem rappelvollen Obergeschoss konfrontiert. Marcel sitzt auf der Treppe zum Büro, seinem Backstage quasi, direkt daneben ist schon die Bühne errichtet, ein Mikrofon und ein Notenständer für seine Texte stellen diese dar. Eileen und Pott finden einen Platz am Tisch direkt vor Marcels Platz, Ulli und ich am Tisch daneben, an dem Michael mit Freunden für uns zusammenrücken. „Bist du nicht von Rille Elf?“, fragt er mich, und ich staune – diese Frage höre ich erst zum zweiten Mal. „Heute!“, sagt Michael lachend, doch so ist es nicht: im Leben. Er ist mit meinem Rille-Elf-Freund Uwe befreundet, daher kennt er unser DJ-Team. Ulli gefällt diese kleine Braunschweiger Welt, in der man sich kennt; sie erzählt, dass sie mit fünf Jahren aus Magdeburg hier herkam und sich wohlfühlt. In Magdeburg kenne ich nicht so viel, den Zoo habe ich zweimal besucht, einmal mit Andrea wegen der Elefanten. „In dem Gehege habe ich als Kind meinen Teddy verloren“, erzählt Ulli: Er fiel ihr herunter, und als vorbeigehende Zoobesucher dies mitbekamen, bildeten sie eine Menschenkette, um den Teddy zu erreichen, waren insgesamt jedoch um nur ein, zwei Zentimeter zu kurz. Ein Drama!

Marcel beginnt. Jedes Mal begeistert mich, wie er seine – gespielte? – Unsicherheit um eins überdreht und entwaffnend gegen sich richtet. Es gehe ihm nicht gut, behauptet er, und fordert das Publikum auf, falls er kollabierte, ihn einfach liegen zu lassen, Fotos von ihm zu machen und diese bei Instagram zu posten, Hashtag #marcelpollex, „damit würden Sie mir helfen“. Schon hat er das Publikum geschlossen auf seiner Seite, aber das war sicherlich auch vorher schon der Fall. Seine Texte trägt Marcel nicht einfach vor, er performt sie. Er spielt Theater, er übernimmt in Dialogen wechselnde Rollen, er geht aus sich heraus, wirbelt mit den Händen in der Luft, nutzt das Mikrofon dramaturgisch für sich, indem er manche lauten Passagen einfach an diesem technischen Gerät vorbei in den Raum brüllt. An alltäglichen Beobachtungen lässt er seinen Weltekel aus, indem er nadelstichartig abgründige gesellschaftliche Details in Nebensätzen fallen lässt, während er etwa von vermeintlichen Harmlosigkeiten wie Kaffeetrinken am Sonntagnachmittag oder von Beobachtungen auf dem Wochenmarkt berichtet. Da macht er eben den rassistischen Onkel oder den sexistischen Kunden in der Gemengelage aus. Er schreckt weder vor Selbstironie zurück noch davor, sein freundlich Publikum zu beleidigen, und betont dann glaubwürdig: „Ich mein‘ das alles mit Liebe!“

In der Pause erzählt mir Michael, dass er schon die Termine für die Lesebühne Die Generalprobe kennt, die Marcel mit Axel Klingenberg und Roland Kremer im Kufa-Haus ausrichtet: Den 26. April und den 25. Oktober hat er sich auf seinem Smartphone notiert. Mit dem lässt er nun Ulli Fotos von unserer Tischrunde machen, um sie an die Whatsapp-Freundesgruppe zu senden, die er mit Uwe teilt. Marcel übernimmt nun wieder das Wort, wie angekündigt pünktlich nach 15 Minuten Pause um exakt 20:51 Uhr. Der Zuspruch ist immens, eine Zugabe ist nach Abschluss seiner Vorstellung obsolet, dafür wählt er den Text aus über den Handykaufvertrag, bei dem man das Smartphone umsonst bekommt, sofern man zustimmt, dass dafür ein alter Mann in Bayern stirbt, „der Hoackenschorsch“, was dem Kunden besser gefällt, als 699 Euro zu zahlen und damit einem Kind in Afrika einen Tag Schule zu finanzieren. Das dumpfe Gefühl, das der Kunde nach einigen Tagen empfinden könne, sei Schuld, lässt Marcel die Verkäuferin sagen, „aber das vergeht wieder“. Zum Abschluss lässt Marcel uns und Chris, der sich unter die Gäste mischte, wissen, dass „ich einen solchen Abend gerne nochmal machen würde“. Wir auch, Marcel!

Im Aufbruch zeigt mir Michael noch schnell Uwes Antwort bei Whatsapp: „Jetzt weiß ich auch, warum Matze den MokkaBär geschwänzt hat!“ Hab ich ja gar nicht, schreibe ich Uwe, ich war ja am frühen Nachmittag schon da. Wir steigen die Treppe herab, begleichen bei Dominik unsere Rechnungen und treffen uns nochmal in vertrauter Runde vor der Tür, bevor es an den nächtlichen winterkalten Heimweg geht. Der Mond steht wie ein angebissener Mozzarella am Himmel, begleitet vom Jupiter, wie Andrea mich per Fotonachricht aufklärt. Dieser Abend hätte gern noch länger andauern dürfen!

Matthias Bosenick

www.krautnick.de
Fakebook

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