#197 Schneeregenglöckchen

Donnerstag, 8. Februar 2024

Schneeregen, na toll! Da wird es endlich winterlich kalt, aber nicht kalt genug, dass der Niederschlag gleich komplett gefroren ist und als reiner Schnee zu Boden schwebt. Na, im Riptide ist es warm und trocken, dort schlüpfe ich einfach unter. Jacke und Tasche lasse ich gleich mal an dem Fensterplatz, den ich hier am liebsten einnehme, dicht gefolgt von dem Platz an den Butzenscheiben oben, und melde mich an der Theke anwesend. Chris ist eingespannt, heute spielt das englische Folk-Duo The Rabbitts und er muss noch den Raum und die Technik vorbereiten, aber Dominik ist schon da und nimmt noch vor seinem offiziellen Dienstbeginn meine Bestellung auf. „Wolters?“, fragt er und ich bestätige. Seine Frage nach meinem Tisch, an dem ich sitze, unterbricht er selbst, guckt um die Säule herum und sieht meine Sachen am gewohnten Platz liegen. Er nickt und ich füge das Falafel-Fladenbrot und eine Schale Pommes mit Mayo hinzu.

Das feuchte Wetter lässt die Scheiben beschlagen, und als ich mich gerade ans Fenster setze, nehme ich aus den sprichwörtlichen Augenwinkeln durchs Fenster eine Bewegung wahr: Ulli nähert sich von der anderen Straßenseite, und ihr Versuch, mich zu erschrecken, misslingt mithin. „Ich hole mir nur kurz einen Kaffee“, sagt sie, nachdem sie ins Café schritt und sich zu mir gesellte, „ich bin noch im Dienst!“ Den übt sie nämlich bei Jojeco sehr schräg gegenüber aus. Nach Feierabend habe sie noch an den Schaufenstern zu tun und würde dann gegebenenfalls zum Konzert der Rabbitts ins Riptide schlendern. „Das ist der Vorteil, ich kann nach Feierabend kurz rüberkommen“, sagt sie, und dass sie sich darüber freue, dass wieder mehr Konzerte im Riptide zu erwarten sind. Und schon ist sie wieder draußen in der Nasskälte.

Aus der komme ich ja gerade erst selbst, ich war vorher nämlich in Dänemark, besser: im Haus Dänemark in der Karrenführerstraße 4. Dort begrüßte mich Inhaber Christian und bot mir einen Platz neben sich hinter seinem Schreibtisch an, von dem aus wir den riesengroßen Verkaufsraum überblicken konnten. „Das Magniviertel ist ganz schön, viele inhabergeführte Geschäfte, das findet man nicht mehr so häufig“, begann er. Seit fast 50 Jahren existiert das Haus Dänemark jetzt in Braunschweig, genauer: am 5. September sind es exakt 50 Jahre. „Hier gibt es ausschließlich Sachen, die ich in Dänemark gekauft habe“, betonte Christian, der selbst Halbdäne ist. Sein Versuch, das Gespräch auf Dänisch zu führen, scheiterte daran, dass ich diese Sprache bedauerlicherweise nur rudimentär bedienen kann, ikke nok til kommunikation. Wir tauschten uns darüber aus, wie vorteilhaft und respektvoll es ist, in einem fremden Land wenigstens einige sprachliche Grundfloskeln mitzubringen.

Christian erzählte, dass er dreimal im Jahr in Kopenhagen bei Versteigerungen für Geschäftsleute Waren erwirbt, „eigentlich nur für Leute, die in Dänemark ein Geschäft haben, aber ab und zu kann ich da einkaufen – das versuche ich jedenfalls“. Etwa Bilderrahmen, „die Messingrahmen oder gewölbte Glasrahmen“, begann er aufzuzählen, „Porzellan, ältere Mokkatassen aus den 40er Jahren, die sind zwar nicht alle dänisch, aber in Dänemark eingekauft“, denn viele junge Leute, so Christians Beobachtung, tränken abends wieder gern mal einen Mokka oder Espresso, und seine Tassen sind „dünnwandiger als die klobigen, die hält man anders“. In Italien bin ich die dickwandigen gewohnt, und Christian mutmaßte lachend, dass die in der Gastronomie schlichtweg haltbarer seien.

Das Angebot im Haus Dänemark sei sehr exklusiv, sagt Christian: „80 Prozent der Sachen, die ich anbiete, kann man nur direkt bei mir bekommen.“ Zwar gehe es dem Einzelhandel dieser Tage grundsätzlich nicht sonderlich gut, doch sei sein Geschäft davon glücklicherweise ausgenommen. Um das zu gewährleisten, lege er seine volle Energie in das Unternehmen; er habe sogar sein Haus verkauft, das er nördlich von Kopenhagen hatte, um sich voll auf das Geschäft in Braunschweig konzentrieren zu können. Ihn freute: „Es kommen viele junge Menschen, die Wert auf Qualität legen, das ist mehr geworden.“

Als ich vor einigen Jahrzehnten dem unbestimmten Wunsch nachging, nach Dänemark auszuwandern, holte ich mir Ratschläge im Haus Dänemark ein, damals bei Gründer Erik, „der Ur-Däne“, wie Christian ihn nannte, der jedoch bereits 2008 verstorben war. Damals hatte ich den Eindruck gehabt, dass das Haus Dänemark im Sticken einen Schwerpunkt setzte. Christian holte aus: „Wir sind seit 25 Jahren hier, davor waren wir in der Kuhstraße, da hatten wir zwei Etagen und oben war die Stickabteilung.“ In den Achtzigern hatte die Stickerei ihre Hochzeit, sagte er, das sei heute anders: „Allein davon könnte ich nicht leben.“ Ganz ohne indes auch nicht: „Für die Wand wird nicht mehr gestickt“, stellte er zwar fest, aber noch „für Kissen, Adventskalender oder zur Geburt“, und besonders dieser Anlass sei für Stickende sehr beliebt. Er selbst beherrsche ebenfalls die Stickkunst, „ich habe sogar eigene Entwürfe gemacht“.

Auch mit einer Etage weniger sei das Magniviertel kein schlechterer Standort, schwärmte Christian. In den Jahren seien erfreulicherweise mehr Geschäfte hinzugekommen, es gebe kaum Leerstand, aktuell gerade mal den Naturkostladen, der jüngst seine Aktivitäten einstellte, „aber sonst ist alles relativ schnell vermietet“. Es habe sich zudem bewährt, dass „in der Sommerzeit“ die Strecke am Magnikirchplatz nur noch für Fußgänger und Radfahrer freigegeben sei, „nicht mehr für Autofahrer“. Und Christian fand „die Aktionen von der Magnikirche gewaltig“, die Pfarrer Henning Böger initiiert, zum Beispiel das Singen am Mittwoch, „er engagiert sich unwahrscheinlich“. Nicht geschafft hat es Christian bisher ins Café Riptide, auch nicht, um Platten zu kaufen; „ich bin aufgewachsen mit Joan Baez und Donovan, das ist meine Zeit gewesen“, erzählte er. Den Film „Joan Baez: I Am A Noise“, der jüngst im Kino lief, sahen wir aber beide nicht.

Christian ist eigentlich Lehrer, doch als er seinen Abschluss gemacht hatte, „habe ich keine Anstellung gefunden“, es waren die Siebziger und es gab eine Lehrerschwemme. „Da habe ich irgendwann einfach hier angefangen“, erzählte er, „das ist einfach mein Weg seit 45 Jahren.“ Drei in Teilzeit angestellte Mitarbeiterinnen beschäftigt er, mit denen er mehr als zufrieden ist: „Ich kann mich hundertprozentig auf sie verlassen.“ Im Internet sei das Haus Dänemark zwar auch zu finden, indes ohne Online-Shop, „aber man kann gucken, was ich anbiete“. Zum Beispiel, so setzte er seine begonnene Aufzählung fort, Kerzen. „Ich kaufe über eine Tonne Kerzen im Jahr ein“, sagte Christian, „was ich an Kerzen verkaufe, ist der positive Wahnsinn!“ Die Hauptzeit für sein Geschäft sei September bis Ostern, da sei die Belegschaft zu dritt im Geschäft und ausgelastet. Der Grund für den Kundenstrom lag für Christian auf der Hand: „Die Qualität ist einfach gut.“

Zum Abschied wechselte Christian zu einem anderen aktuellen Thema: „Wir sind jetzt König!“ Seit dem 14. Januar regiert nämlich Frederik X., Sohn und Nachfolger der über 50 Jahre amtiert habenden Königin Margrethe II., die nicht bis zu ihrem Tod im Amt blieb, was in Dänemark unter den Regenten eine enorme Seltenheit ist. Sie war im Lande schon sehr beliebt, und so ist es auch der Sohn: „Er ist sehr begehrt“, wusste Christian, der selbst einen Namen dänischer Könige trägt, und fand, dass Frederiks tasmanische Gattin Mary großen Anteil daran hat, „sie passt gut und er ist gewachsen“. Überhaupt sei das dänische Königshaus von großem Ansehen, anders als andere Königshäuser, freute sich Christian. Er hatte nun aber Feierabend und begleitete mich daher zum Ausgang, zurück in den Regen.

An meinem Fensterplatz im Riptide trockne ich allmählich wieder. Chris setzt sich zu mir und stellt eine Falafel-Bowl vor sich ab. Seit morgens ist er im Einsatz und gönnt sich eine kleine Pause, bis er den Raum für das Konzert vorbereitet. Zwei Tische müsse er wegräumen, aber bis dahin können die Gäste an denen noch gern sitzen bleiben. „So, der Herr“, sagt Dominik und reicht meine Bestellung an. Perfekter Zeitpunkt, Chris und ich genießen beide unsere Falafel-Speisen. „Wir wollen den Winter erträglicher machen durch unsere Veranstaltungen“, sagt Chris. Zu denen eben heute The Rabbitts gehören, aus Norwich, „die sind auf Tour mit dem Zug durch Deutschland“, erzählt Chris. Auf sie aufmerksam wurde er „wie früher“, sagt er: „Private connections, Booking, wollt ihr nicht zu uns kommen?“, verknappt er. „Jetzt spielen sie bei uns.“ Was das Duo macht, ist „ruhiger, melancholischer Folk“, sagt Chris, „schöne Songs“, und einer davon sei bei Spotify sehr erfolgreich geworden, zur Überraschung der Musiker selbst. Mit Spotify lernte Chris sich zu arrangieren, nachdem er die Empfehlung für den Streamingdienst bekam, denn es sei nun einfacher, fürs Café Playlists zu erstellen, als wenn er dies mit eigenen Dateien oder gar mit Vinyl vornähme, und vor allem könne er so sehr aktuell sein: „Immer das Neueste, da habe ich auch Interesse dran.“

Jetzt indes ist Chris‘ Interesse vorrangig darauf fokussiert, die Technik aufzubauen. Die steht inzwischen im Café bereit, nachdem sie drei Jahre lang ungenutzt im Lager verschwunden war: „Wie komme ich da ran?“, fragte sich Chris angesichts der ganzen Möbel, die dort im Weg standen. Neu ankommende Gäste, von denen die Brillenträger ihre beschlagenen Sehhilfen nach dem Eintreten abnehmen müssen, verweist Chris auf die obere Etage, in der möglicherweise noch Platz sei, und beginnt mit dem Bühnenaufbau.

Als Chris gerade Stühle schleppt, spricht ihn ein Paar an, das nicht primär als Gäste aufzufassen ist: Lucy und Odhran sind angekommen, The Rabbitts also. Sie lassen sich dankbar Wasser aushändigen und orientieren sich zunächst im Raum. Auf Tour mit dem Zug, erzählen sie, seien sie ausschließlich in Deutschland, nicht etwa in ganz Europa, weil eine Schwester von Lucy hier lebt – „und ich bin Halbdeutsche selbst“, fügt sie an. Odhran habe „gute Sachen über die Musikszene hier“ gehört, eine weitere Motivation für die Reise. Gestern waren sie noch in Marburg, das ihnen gefiel, mit der Burg und dem schönen Stadtbild; das kenne ich noch, weil meine jetzt Kieler Schwester dort lange Zeit lebte. Doch Odhran staunt: „Wir haben vier Züge gebraucht, um herzukommen“, fünf Stunden dauerte die Fahrt, die ich mit dem Auto in dreieihalb Stunden schaffte. „Deutschland ist groß“, bemerkt Odhran, „es sieht näher aus auf der Karte.“

Zu erwarten haben wir von den Rabbitts heute „Folk Music“, sagt Lucy, aber nicht nur: „psychedelisch, dreamy, mit Harmonien“, ergänzt sie, und dargeboten mit Mandoline und Gitarre. Als Einfluss nennt Odhran einen „big mix, verschiedene Genres, nicht streng Folk“, und Lucy ergänzt „Sechziger, Siebziger, Nick Drake, aber auch moderne Sachen, wir hören viel verschiedene Musik“. Überraschenderweise nicht kennen die beiden indes New Model Army, die Folk-Rock- und Post-Punk-Helden schlechthin aus England, die mir geradewegs einfallen, und wollen sich die später im Zug zu Gemüte führen. Unklar ist überdies, ob dies für beide wirklich das erste Mal ist, dass sie in Braunschweig sind. „Ich muss als Kind schon hier gewesen sein“, sagt Lucy, denn: „Meine Mutter wuchs hier in der Nähe auf, auf einem Dorf, in Cremlingen.“

Leider ist es mir nicht vergönnt, dem Konzert beizuwohnen, weil ich noch anderweitig verpflichtet bin. Daher begleiche ich bei Dominik meine Rechnung und nehme die neue LP „Wall Of Eyes“ von The Smile aus seiner Hand entgegen. Die 225. Episode der Drei Fragezeichen ist noch nicht eingetroffen, die nehme ich dann nächstes Mal mit. Vor der Tür verharre ich kurz: Inzwischen ist es etwas mehr Schnee als Regen, was da vom schwarzen Himmel kommt, der Kirchplatz sieht wunderschön aus, wie die Flocken durch die Lichtkegel wirbeln, eine herzerwärmende Atmosphäre trotz der Nasskälte. Durchnässt werde ich auf dem Heimweg dennoch. Die ersten Schneeglöckchen, die ich diese Woche zu sehen bekam, waren eben doch noch keine Frühlingsboten – es ist noch mitten im Winter. Das darf es auch gern noch eine Weile sein.

Matthias Bosenick

www.krautnick.de
Fakebook

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