#198 Kugelrunde Kugelrunde (mit Queequeg auf der Pequod)

Dienstag, 12. März 2024

Heute nehme ich mir endlich die dicke Box der 225. Folge der Drei Fragezeichen aus dem Café Riptide mit, „Der Puppenmacher“: Fünf LPs mit drei Stunden Hörspiel, die für die Handlung eigentlich viel zu lang sind; das weiß ich, weil ich die Episode bereits auf Spotify gehört habe. Aber die Jubiläums-Hörspiele der Reihe brauche ich einfach auf Vinyl, was soll ich machen. „Los Angeles“, das Album von Lol Tolhurst, Budgie und Jacknife Lee, ist leider noch nicht da, jedenfalls entdeckte Dennis es nicht in den Lieferungen, die er bereits auspackte.

Dennis arbeitet momentan allein im Riptide, Chris ist nämlich noch bis Montag im Urlaub. Ich vergesse völlig, Dennis zu fragen, wann die Draußensaison für das Riptide beginnt – Café Lineli und Das kleine Café sind schon mal vorgeprescht und bieten Außensitzplätze auf dem Magnikirchplatz und an der nicht mehr befahrenen Straße an, das sieht schon mal gut aus. In bereitgestellte Decken gehüllt sitzen die Gäste dort, ja, es darf Frühling werden. Ich nehme meinen üblichen Platz am Fenster ein und bescheide Dennis, dass ich noch Zuwachs bekomme und deshalb meine Bestellung aufschieben möchte, obwohl, schon mal ein Bierchen ist drin, man will ja nicht dehydrieren, das gibt ja nur Ärger fürs Riptide, wenn man da so vertrocknet, und dann der ganze Papierkram. Dennis hebt die Arme und guckt entsetzt: „Da bin ich raus, da stelle ich dir lieber auch zwei hin!“

Mein Zuwachs ist Hardy, und der wächst soeben zu. Mit meiner Essens-Bestellung – Fladenbrot mit Falafel sowie einer Extra-Schale Pommes mit Mayo, die ich mit Hardy teile – hätte ich gar nicht auf ihn warten müssen, da er nicht jetzt zu essen gedenkt. Stattdessen bestellt er bei Dennis ein Hefeweizen, „mit Alkohol“, wie er betont, und Dennis vergewissert sich, ob er den Alkohol extra servieren soll. Wir einigen uns darauf, dass er noch einen Korn in Hardys Bier kippt, was der jedoch entschieden ablehnt. Und was das Essen betrifft, sind zwei Bier ja auch Stulle, wie ich bemerke, doch Dennis findet, dass das dann aber eine trockene Mahlzeit sei. Macht nix, er will ja noch einen Korn hinzufügen. Hardy meint, Dennis dürfe ihm gern ein Maiskorn bringen.

Wenn kein so richtiger Winter mehr ist mit Schnee und Minusgraden über längere Zeit, finde ich den Frühling merkwürdig. Der löst dann nicht die weiße Eiseskälte ab, sondern nur ein schummeriges Grau. Der Schmuddel bleibt grundsätzlich erhalten, der erlösende Effekt bleibt aus, naja, nicht ganz, er reduziert sich, bekommt etwas Willkürliches. Und trotzdem: Wenn dann mal kurz die Sonne sich blicken lässt und auf das aufkeimende Grün und die ersten Blüten strahlt, erfreut es das Herz. Obst- und Mandelbäume ergänzen die Farbpracht von Blumen, deren Namen niemand korrekt schreiben kann, und wenn man so durch Parks und die Stadt schlendert, hellt es sogleich die Miene auf. So war es für mich schon auf dem Weg hierher, an Bürgerpark und Lessingplatz vorbei.

Der fürs Riptide neue Nachbar, den ich auf dem Weg besuchte, ergänzte den Eindruck von Gutgehenlassen: Ich war in der Wellness-Oase, Ölschlägern 6, direkt am Eingang zu der kleinen Passage zur Langedammstraße. Der Raum ist schmal, aber warm, nicht nur die Temperatur betreffend, auch die Einrichtung: Teppiche und Kissen, eine gemütliche Sitzecke, Kunstobjekte, eine Kerze, es duftet nach Ölen – der Auftrag, den sich Inhaberin Katarzyna auf die Fassade geschrieben hat, ist schon beim Eintreten erfüll. So geht Wellness.

Seit 2003 betreibt Katarzyna diese Oase, davon die zurückliegenden elf hier im Magniviertel. Ihren Anfang nahm diese Oase am Steinweg, doch: „Ich habe das hier gekauft, ich wollte keine Miete mehr zahlen“, erzählte mir Katarzyna. „Und ich wollte etwas Kleines haben, das davor war riesengroß, 200 Quadratmeter, das wollte ich nicht, ich wollte mich verkleinern und weniger leisten müssen.“ Ihre neue Adresse habe weitere Vorteile: „Das Magniviertel ist ein Super-Standort, gerade für sowas“, strahlte sie. Und betonte: „Ich habe nicht nur Menschen aus dem Viertel hier, sondern aus verschiedenen Ortschaften, Städten und Dörfern.“ Als sie noch in Sickte wohnte, hatte sie damit begonnen, „zu Hause zu behandeln“, fügte sie an.

Um welche Art Behandlung handelt es sich überhaupt? „Ich stehe für ganz alte Heilmassagen, hawaiianisch und polynesisch“, antwortete Katarzyna. „Das sind ganzheitliche Behandlungen, man sieht den Menschen ganzheitlich, Körper, Geist und Seele“, vergenauerte sie. Dabei bleibe es nicht: „Wellnessprogramme, Körper- und Gesichtspflege, Kosmetik“ biete sie außerdem an. Sie lächelte: „Es ist gemütlich, schön und warm.“ Was eine Folge des Konzeptes ist, sich auf Hawaii und Polynesien zu berufen: Sie wärmt für die Behandlung die Liege auf und verwendet warme Öle, bei den hawaiianischen Ritualen laufe zudem hawaiianische Musik. Aktuell hat Katarzyna ein Orangen-Ritual im Angebot, bei dem man mit warmen Orangenöl massiert wird und auch ein entsprechendes Gesichtspeeling bekommt. Die warmen Öle bietet sie vornehmlich in Herbst und Winter an, im Sommer auch „Buttermassagen mit Mango oder Kokos“.

Inspiration für diese Massagen hatte Katarzyna in der Literatur gefunden: „Ich habe ein Buch gelesen über ganz alte Heilmethoden, auch mit schamanischer Arbeit – da wollte ich die Massagen lernen“, berichtete sie. Das war ab dem Jahr 2000 erfolgt, „erst in Warschau, dann in Dänemark, von einem polynesischen Lehrer, und auf meinem Weg hatte ich noch ein paar andere Lehrer“, erzählte sie. „Es hat mich schon immer interessiert, was mehr ist als nur Massage“, ergänzte sie und nannte beispielhaft die „Huna-Philosophie“, die auf alten hawaiianischen Religionen basiert und diese in die Gegenwart transferiert.

Katarzynas nächste Kundin betrat das Foyer und bereitete sich nach der Begrüßung im verborgenen Nachbarraum auf ihre anderthalbstündige Behandlung vor. Im Sommer, ließ mich Katarzyna abschließend wissen, sei sie gern im Riptide essen gewesen, „mehrmals – da trifft man sich mit Freunden“. Sie lächelte: „Sowieso, das Magniviertel ist ein ganz anderes Viertel, wir passen schon hier rein.“ Jetzt will ich ihre Kundin nicht länger warten lassen und verabschiede mich, natürlich mit dem Riptide als Ziel.

Dort sitzen Hardy und ich am Fenster und betrachten die Welt, Stunde um Stunde. Es wird angenehm spät dunkel inzwischen, bald ist Equinox, aber dunkel wird es, das macht das Licht drinnen noch wärmer. Dennis versorgt uns den ganzen Abend über mit den erforderlichen Getränken. Jörg tritt an unsere Sitzgelegenheiten, er gehört zu denen, die draußen auf dem Magnikirchplatz einem Spiel frönen, von dem ich nie weiß, ob die Spielenden selbst es Boccia, Boule oder Pétanque nennen, das würde ich noch in Erfahrung bringen, aber Jörg hat ein eiligeres Ziel. Hardy und ich treten vor die Tür, weil er ein anderes Ziel verfolgt, das in geschlossenen Räumen nicht auf für alle vertretbare Weise zu erreichen ist, und da sehen wir im Flutlicht die Spielenden mit ihren Kugeln geheime Rituale aufführen. Direkt an der Magnikirche trifft sich eine Gruppe Sporttreibender zum Nordic Walking und stakst hinter der Kugelrunde quer über den Platz. Die sind bestimmt aus Stöckheim. Jörg eilt an uns vorbei, zurück zu seiner Gruppe, wie Hardy glaubt: „Eine ruhige Kugel schieben.“ Wie schön das aussieht, die Gestalten, die sich im Flutlicht bewegen, und die Kugeln, die glänzend das reflektierte Licht streuen.

Dennoch kehren Hardy und ich zurück an unseren Platz, indes, um ihn für heute aufzugeben, es ist spät. Bei Dennis an der Theke begleichen wir unsere Rechnungen, und er erzählt uns, dass er morgen die Quiznight übernimmt, die vorletzte vor der Sommerpause. Ausgebucht ist sie längst, ebenso wie die letzte im April. Mit der Denksportgruppe Nowak sind wir für diese Saison also zu spät für einen Einsatz, wir sollten uns schon jetzt für den November anmelden. Die Fragen, die Dennis sich für morgen ausdachte, seien bunt über die Themenspektren der Welt verteilt. Als erstes etwa wolle er fragen, welches berühmte Buch der Weltgeschichte den ersten Satz hat: „Nennt mich Ismael.“ Das wissen Hardy und ich, der Punkt wäre uns sicher. Der für die nächste Frage hingegen nicht: „Wie hieß Istanbul bei seiner Gründung?“ Auf Konstantinopel als früheren Namen kommen wir noch, aber wie die Hauptstadt des Byzantinischen Reiches davor hieß, will uns partout nicht mehr einfallen. Als Dennis es uns verrät, sind wir uns einig: „Das hätten wir wissen müssen“, ruft Hardy. Hätten wir! Dennis betont, dass es für die Antworten immer ein knappes Zeitlimit gibt, damit niemand noch am Handy googeln könne, und widmet sich dann den hinter uns wartenden Gästen, die ihrerseits Anliegen haben.

Wir wünschen Dennis gutes Gelingen für die Quiznight und begeben uns vor die Tür. Wir hören das Klicken der Kugeln. Beide sind wir zu Fuß hier, Hardy sagt, dass er sich am Ende der Straße spontan entscheidet, welchen Weg nach Hause ins Östliche er einschlagen will, und ich glaube, den ins Westliche durch die Innenstadt zu nehmen, entscheide mich dann aber ebenso spontan doch für den Hinweg in umgekehrter Richtung, an Lessingplatz und Bürgerpark vorbei zum Frankfurter Platz. Mit den Drei Fragezeichen unterm Arm kann mir ja nix passieren.

Matthias Bosenick

www.krautnick.de
Fakebook

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