Dienstag, 9. April 2024
Kann man Anfang April in Ostfalen schon die Draußensaison beginnen? Guido und ich haben es heute vor, vorm Riptide, weil es seit dem Wochenende so vielversprechend sonnig wettert. Doch als ich am Magnikirchplatz ankomme, sind die Schirme vom Riptide eingeklappt und lediglich bei Barnaby’s Blues Bar sitzt eine Gästegruppe draußen. So richtig warm ist es ja auch nicht mehr, zudem wolkenverhangen, mit Saharastaub drin vermutlich, aber dennoch frage ich drinnen bei Dominik nach. Der bestätigt meine Befürchtung: „Wir sind noch nicht bereit“, erklärt er, das Café sei oben und unten ausgebucht und das Personal noch nicht saisonal aufgestockt, mithin drinnen voll eingebunden. Eine Firmenfeier findet statt und „das Strickerteam“ trifft sich, letzteres vornehmlich, um sich auf Englisch zu unterhalten, und von dem Club habe ich sogar schon gehört. Erst heute früh errichtete das Riptide-Team die Möbel draußen, aber das nur vorbereitend. Den alternativ angebotenen Stehtisch vor dem Riptide muss ich jedoch dankend ablehnen: Es beginnt soeben zu regnen.
Das ist auch für Guido ein Hindernis, sich mit mir wie erhofft für draußen etwas zum Essen zu bestellen, also ergreifen wir die Gelegenheit beim Schopfe, uns bis zu den Reservierungen oben an das Eckfenster zum Innenhof zu setzen. Unsere Bestellungen nimmt Stella entgegen: Einen Riptide-Burger und eine Fritz für Guido, das Falafelfladi mit einer Schüssel voll Pommes mit Mayo und ein Wolters für mich.
Oben sitze ich echt mal viel zu selten, meistens bleibe ich unten oder, gerade im Sommer, gleich draußen hängen. Diese niedrige Decke, die wohlige Wandfarbe, die kleinen Fenster, alles strahlt Behaglichkeit aus. Um uns herum wird es zusehends voller, und so war es wohl auch vergangenen Donnerstag, wie mir Ulli von Jojeco schräg gegenüber gestern erzählte, als ich sie in meiner Hood bei Rewe traf: Siggi spielte, und aus Ullis Vorhaben, sich mit Freunden „auf ein Bier“ nach Feierabend im Riptide zu treffen, wurde eine Abenteuerreise: Es war so voll, dass sie kaum durchkam. Erfreulich!
Erst reicht Stella uns unsere Getränke, kurz darauf schon die Speisen, Guido erbittet eine weitere Cola, ich habe noch mein halbes Wolters. Gestern beendete ich die dritte Staffel von Lars von Triers Krankenhaus-Horror-Serie „Geister“ und bin noch reichlich verstört von dem Ende. Guido und ich guckten die ersten beiden Staffeln in den Neunzigern, ich sah die erste Staffel sogar in einer Nachtaktion im Broadway-Kino am Stück, im Original mit Untertiteln, und war Lars von Trier sofort verfallen. In „Riget – Exodus“, wie die Fortsetzung im Original heißt, überwiegt der Klamauk über dem Horror, doch der hat es trotzdem in sich. Guido erzählt, dass er sich vornahm, sich die Filme mit Bud Spencer und Terence Hill nochmal als Erwachsener anzusehen, weil er die beiden Schauspieler immer noch mag und überprüfen möchte, ob er die Filme auch noch so gut findet wie die mit Louis de Funès, die weit mehr Ernst in ihrem Slapstick haben, als man damals als Kind so wahrnahm.
Noch ein Getränk, die Zeit schreitet voran, Stella ermahnt uns behutsam, dass es Zeit ist, den Reservierenden den Platz freizumachen, und wir leisten ihr bereitwillig Folge. Zwei LPs sind für mich angekommen, die möchte ich noch unten an der Theke mitnehmen, und zwar die lang erwartete Doppel-LP „Los Angeles“ von Lol Tolhurst, Budgie und Jacknife Lee sowie „Blessings Of The Highest Order“, die Compilation mit Nirvana-Covern von Thou, jene auf weißem Doppel-Vinyl.
Da tritt Chris aus dem Thekenbereich heraus und ich frage ihn nach dem Buch über die Toten Hosen, das er herausgab, oder was habe ich in diesem Internet gelesen? Nicht so ganz korrekt gemerkt habe ich mir das Gelesene jedenfalls: „Ein Reisebericht in einem Printmagazin“, korrigiert mich der Autor, und zwar über die Tour der Toten Hosen in Argentinien, von der er mir schon erzählte. „Ich habe Sachen aufgeschrieben für Freunde, die haben sich totgelacht“, erzählt er, „da habe ich gedacht, das könnte auch ein Reisebericht sein, fragste mal Musikmagazine.“ Erste Wahl war das Trust Fanzine, ein DIY-Magazin aus Bremen über Punk und Artverwandtes, das wohl älteste Magazin dieser Art in Deutschland. „Ich habe die angeschrieben, die wollten eine Leseprobe, habe ich geschickt, klingt gut, schick mal alles“, fährt er fort. „Da habe ich mich hingesetzt und einen Reisebericht mit Fotos geschrieben.“ Die Antwort aus der Hansestadt: „Hammer, das wird so, wie es ist, veröffentlicht“, freut sich Chris. Dabei vergaß die Redaktion, ihn darauf hinzuweisen, dass der Text bereits in der Aprilausgabe enthalten ist, sehr zur Freude des Schreibers. Inzwischen bekam er das Heft zugeschickt, satte sechs Seiten nimmt sein Text ein, und er hat zehn Exemplare für den Verkauf mitgeschickt bekommen, die legt er morgen am Tresen aus. Jetzt nur noch neun, eines nehme ich gleich mit. „Für mich ist das eine Riesenehre“, strahlt Chris, „über meine Lieblingsband einen Bericht schreiben und in einem Magazin veröffentlichen.“ Direkt seinem Text folgen vier Seiten über The Antipreneurs, deren neue LP „Cash Cult Cannibals“ es auch im Riptide zu kaufen gibt, und Chris grinst: „Eine Braunschweig-Ausgabe!“
Trust und das Riptide haben eine längere gemeinsame Vergangenheit: Herausgeber Dolf Hermannstädter las noch in den alten Räumen aus seinem Buch, erinnert sich Chris. Dolf sei jemand, der seine Sache „totel straight durchzieht, keep it real“, und das auch noch, nachdem das Trust eine ISBN erhielt, was in der Szene einen Aufschrei nach sich zog. Und für das Riptide den Verlust seines Status’ als Exklusivvertrieb in Braunschweig bedeutete, da das Magazin fortan überall erhältlich war und also auch überall anders gekauft wurde.
Inzwischen stehen Guido, Chris und ich draußen vor dem Riptide. Es regnet nicht mehr, sonst würde unser Abschied wohl schneller ausfallen. Daher nimmt sich Chris die Zeit, etwas anzukündigen: „Am 1. Mai beginnt offiziell die Sommersaison.“ Dann gibt es wieder die Sommerspecials, eine überarbeitete Speisekarte und eine ganz neue Weinkarte. Bis dahin behält er sich vor, die Außenfläche lediglich an absehbar schönen Wochenenden freizugeben. Zu den Schirmen und Sitzmöbeln auf dem Platz merkt er an, dass viele neu dazukamen und er andere austauschte. Insbesondere mehr Schirmfläche ist ihm wichtig, angesichts der Tatsache, dass der vergangene Sommer wochenlang verregnet war und die Gäste ja auch nicht in stechender Sonne sitzen sollen. „Wir hoffen, dass der Sommer besser wird als letztes Jahr“, sagt er und verabschiedet sich in den Feierabend.
Guido bringt mich nach Hause, er parkt am Steintorwall. Wir kommen am Einrichtungshaus Körner vorbei – dem gegenüber war ich vorhin, neue Riptide-Nachbarn erkunden, denn in dem leerstehenden Raum in der Straße Am Magnitor richtete sich eine Künstlerin ein. Gerade verabschiedete Anja zwei Besucher, als ich eintrat und sie sich Zeit für mich nahm. Der Raum, erzählte sie, gehöre Körners, und die Hauptmieterinnen richteten oben Pflegeberatungsstellen ein. Der Raum ist schmal, eine halbrunde Holztreppe führt nach oben, Anjas Bilder hängen an den Wänden sowie gegenüber im Einrichtungshaus quasi als Teil der Deko. Bis zum 2. Mai stellt Anja hier aus.
Zwar ist Anja Braunschweigerin, aber nicht gebürtig: Zur Welt war sie in Lübeck gekommen, war aber mit einem Jahr ins Ruhrgebiet weitergezogen worden und hatte dann einige Zeit in Westerstede verbracht, bevor sie zum Studieren nach Braunschweig gekommen war, an die Kunsthochschule. „Ich hatte einen supertollen Kunstlehrer, der das gemacht hat, ich wollte das auch machen“, berichtete sie. Ein „Kunst-Abi“ habe sie, lachte sie, „ich habe à la Cézanne gemalt, der war mein Vorbild, ich habe das gern gemocht, das Malerische, Aufgelöste, Fleckhafte“. Der Blick auf ihre Arbeiten bestätigte das. Im Schimmelhof betreibt Anja den Farbraum, eine Mischung aus Atelier und Galerie, „gegenüber vom Kult, da male ich“. Für die Ausstellung hier im Magniviertel hatte sie bereits existierende Bilder eigens zusammengestellt, „was zum Raum passt“, und bemerkte: „Ich male abstrakt, aber nicht chaotisch“, denn Kleckse wie bei Jackson Pollock gebe es bei ihr nicht. Dafür habe ihre zweite Profession zu viel Gewicht: Sie ist nämlich außerdem Designerin. Dazu war es gekommen, als sie an der HBK eine Malerei studiert hatte, die auf höheres Lehramt ausgelegt war. „Da habe ich gesagt, ich möchte lieber selbst gestalten“, sagte Anja, „und setzte ein Studium drauf: Design.“ Seit 1997 sei sie nun selbständig, und ihr gefalle die Kombination aus beiden Richtungen, die sich in ihrer Arbeit ausdrücke.
In Anjas Arbeiten lässt sich nämlich sehr wohl etwas erkennen, „auch im Abstrakten sieht man etwas“, bestätigte sie, „man will sich ja orientieren“. Wenn sie malt, dann mit Intuition: „Ich male keinen Elch auf dem Berg“, sagte sie, „also nicht realistisch“, weil man sich solche Bilder einmal ansehe, sie abspeichere und dann nie wieder ansehen müsse, bei ihren Bildern indes könne man immer wieder „hingucken, man entdeckt neue Stellen, ein neues Gefüge, eine neue Assoziation, und auch, wenn man Landschaften sieht, entdeckt man immer neue Wege“. Ihre Bilder seien „farbintensiv, nicht bunt“, betonte sie, und auch mal monochrom, etwa die blauen Bilder mit Motiven, die an Seestücke erinnern. „Tiefgrund nennt man die Farbe“, erklärte sie, und fügte an: „Ich segele gern auf der Ostsee.“ Eindeutig erkennbar, und sie schob nach: „Am Mittelmeer würde es wahrscheinlich anders aussehen.“
Da unterbrach uns Bettina, die zur Tür hereinkam, als Anja gerade erzählen wollte, dass in dem Raum am 1. Juni „ein kleines Ladengeschäft“ eröffnet werde. Bettina hat nämlich unter dem Dach ein Büro für rechtliche Betreuung eingerichtet, im Stockwerk zwischen hier und ihr betreibt Julia die Pflegeberatung. Das Ladengeschäft eröffnet Britt, „eine Freundin“, sagte Bettina, „mit Kunsthandwerk aus der Region“. Zusammen betreiben Britt und Bettina bereits den VielRaum in der Fontanestraße, Ecke Schlegelstraße, gestartet hatten sie ihn noch in der Roonstraße, und wenn er hierherzieht, teilen sie die Aufgaben auf, dann übernimmt Britt den VielRaum allein und Bettina konzentriert sich auf die Beratung. Außer den dreien wird „noch jemand“ einziehen, es gebe nach hinten ein weiteres verfügbares Büro, ergänzte Bettina. Anja strahlte und bemerkte, dass sie den Raum quasi vorab einweihe und damit zeige, dass hier bald etwas los sei, und Bettina freute, dass es verabredet sei, den leeren Raum auf diese Weise nutzen zu dürfen. Dem Vermieter gefalle zudem, dass damit nicht nur Umzugskartons zu sehen seien, ergänzte Anja, die diese Einladung Julia aus dem Stockwerk drüber verdankt.
Für beide sei das Magniviertel als Standort ausnehmend geeignet. Anja präsentiere ihre Bilder „vor Laufkundschaft, das ist interessant, im Schimmelhof habe ich das nicht, und ich kann Präsenz an einem anderen Ort zeigen, das finde ich sehr ansprechend“. Diese Laufkundschaft sei für Bettina wiederum „kein Standortvorteil“, aber: „Die Lebensqualität mit dem, was es hier bietet!“ Anja nickte: „Diesen belebten Platz kannte ich vor Corona so auch nicht, es gibt mehr Möglichkeiten, die Fläche zu bespielen.“ Bettina schwärmte: „Es ist total schön hier, am ersten Tag, als ich hier etwas herumgeräumt habe, bin ich rausgegangen, die Sonne schien auf den Magnikirchplatz.“ Ähnlich willkommen habe sich Anja gefühlt, als sie ihre Kunstwerke mitgebracht hatte: „Die Nachbarn haben mich gleich begrüßt.“ Zudem sei es für Bettina begeisternd, dass sich „in diesem Haus verschiedene Gewerke“ zusammenfänden.
Und dass das Riptide jetzt in der Nähe ist. „Ich kenne es noch aus dem Handelsweg“, erzählte Anja, die mit Marion von Fifty-Fifty gut bekannt sei. Den Handelsweg fand sie „schon immer spannend“ und empfand das Riptide mit seiner Mischung als „ungewöhnlichen Laden“, der gut in die Geschichte des Standortes passte, „mit den Kneipen“. Sie lächelte: „Ich hab mich aber gefreut, dass das Riptide hierher gezogen ist, jetzt ist der Platz wieder mehr belebt.“ Das fand auch Bettina: „Es ist eine gute Mischung auf dem Magnikirchplatz – und ich freue mich auf den Mittagstisch“, fügte sie mit Blick aufs Riptide an. „Das ist auch Lebensqualität: Rausgehen und etwas essen gehen!“
Bettina hatte nun einen Termin, Julia blickte kurz über das Treppenhausgeländer, weil auch sie beschäftigt war, also setzten Anja und ich das Gespräch fort. Sie freute sich, dass Körners vom Einrichtungshaus ihr die Möglichkeit gaben, im „schönen Magniviertel“ auszustellen, und wies auf die von ihr so genannten „Zwischentakte“ hin, an denen es Getränke und etwas zu knabbern gebe, sowie auf den „Abschlusstakt“ am 2. Mai ab 16 Uhr. Bevor auch ich weiterzog, erklärte sie mir noch ihre Arbeitsweisen: Vornehmlich malt sie auf Leinwand und verwendet Pigmentpulver und Caparol sowie die wasserlöslichen Acrylfarben, aber auch Öl: „Die Stellen, die glänzen, da ist Ölfarbe drunter“, erläuterte sie mir an einem Bild. Öl könne man über Acryl auftragen, „mit Acryl auf Öl geht das nicht“. Und: „Ich zeichne rein, ich kratze rein“, fuhr sie fort, und verwende „schwarze Linolfarbe“. Bevor ich mich auf meinen Weg ins Riptide machte, wies sie mich abermals auf ihren Farbraum im Schimmelhof hin, und wir verabschiedeten uns.
Und dann war ich ja im Riptide. Dort liest am Donnerstag Dirk Bernemann, findet am 17. April die letzte und bereits ausgebuchte Quiznight vor der Sommerpause statt, gibt es am 18. April ein Konzert mit Peppler, öffnet Chris den Laden am 20. April für den Record Store Day, finden am 27. April Konzerte im Rahmen des Festivals Honky Tonk statt und legt Chris selbst als Butch Cassidy am 30. April zum Tanz in den Mai auf – um am 1. Mai das Riptide geschlossen zu halten. Aber danach geht es dann ja los mit der Sommersaison. Draußenplatz, sei okkupiert!
Matthias Bosenick