#201 Das Tor zum Himmel

Donnerstag, 6. Juni 2024

Eigentlich hatte ich die Idee, ins Kino zu gehen. Im Universum läuft „King’s Land“, über den ich mal gelesen habe, dass er die Besiedelung Jütlands mit den Mitteln des Western erzählt. Und mit Mads Mikkelsen, den die Dänen selbst Mäss Miggels‘n aussprechen und dessen Gesicht mittlerweile so zerfurcht aussieht, wie ich mir das unbesiedelte Jütland vorstelle. Attraktiv, fand ich. Micha indes, meine erste Wahl in Sachen Kinobegleitung, schrieb, dass ihn der Film nicht interessiere. Und das, nachdem wir beide einmal beim Filmfest wie die Teenage-Fanboys im Foyer des Astor darauf lauerten, dass Mads Mikkelsen im Rahmen einer Filmvorführung an uns vorbeikommen würde. Was er tat, jedoch in der Mitte eines Trosses, der sich mit Lichtgeschwindigkeit durchs Lichtspielhaus bewegte. Immerhin, wir bekamen eine Ahnung von der Aura von Mads Mikkelsen. Nach Michas Absage nun las ich mehr über den Film und musste ihm innerlich zustimmen: Von einem Historiendrama war nun die Rede, und das klang mir zu anstrengend. Da ein Kaffee für Micha heute aus Zeitgründen keine Alternative war, überlegte ich, Hardy zu fragen, ob er mit ins Riptide käme, da erhielt ich eine Whatsapp-Nachricht von Hardy, der mich fragte, ob ich heute im Riptide sei. So kann’s kommen.

Also mache ich mich auf den Weg, und gerade, bevor ich den Magnikirchplatz erreiche, sehe ich, dass die Vintage-Galerie gegenüber vom Riptide geöffnet ist. Das war sie zuletzt nämlich nicht, wenn ich in der Nähe war, daher greife ich die Gelegenheit beim Schopfe und erkunde einen fürs Riptide neuen Nachbarn, der abermals neuer im Magniviertel ist als das Riptide selbst, das ja nun schon seit vier Jahren hier residiert. In den Räumen am Ölschlägern 25 war bis vor einem Jahr die Busenfreundin untergebracht, das Unterwäschegeschäft für außergewöhnliche Größen, das dem Sturzbach am 22. Juni nicht standhielt und deshalb kurz danach an den Bäckerklint umzog. Nach einer umfangreichen Renovierung betreiben nun Sandra und Alexander die Vintage-Galerie dort, und heute übernimmt Sandra die Betreuung der Kunden, die sich in dem langen zweistöckigen Geschäft umsehen.

„Mein Mann und ich machen das aufgrund unserer gemeinsamen Vintage-Liebe“, erklärt Sandra mir zum Auftakt. „Ich hatte zehn Jahre lang einen Vintage-Laden in Göttingen, aber nur mit Klamotten“, sagt sie und schwärmt: „Ich habe mein liebstes Hobby zum Beruf gemacht.“ Sie verbinde gern Kunst und Mode, Alex sei Tischler und „auf Möbeldesign spezialisiert“, und „auf diesem Weg haben wir uns kennen und lieben gelernt und gesagt: Das fügen wir zusammen!“ Deshalb finden sich nun im Erdgeschoss neben vielen Aufstellern mit Kleidung auch Regale voll mit Deko, Kunst, Nippes und Liebhaberstücken und im Obergeschoss die Möbel. Das Geschäft ist kunterbunt, keine Fläche ist frei von Schaustücken. „Wir kaufen an von Privatleuten, jede natürliche Person kann uns etwas anbieten, und bei Haushaltsauflösungen“, erklärt mir Sandra und grinst: „Wir nehmen auch gern Geschenke an.“ Dennoch, sie betont: „Wir zahlen auch dafür.“

Das Magniviertel kam für das Paar als Standort als erstes in Frage: „Ich bin Göttingerin, ich liebe das Fachwerk, ich liebe den Süden, Italien – das fügt sich zusammen, es hat südländisches Flair, das Gemütliche“, sagt Sandra. „Und die Geschäfte, das passt, das Individuelle, und es kommen auch Touristen am Wochenende“, das Viertel sei lebendig. Von nebenan, aus Barnaby‘s Blues Bar, kämen gelegentlich die auftretenden Künstler herüber „und shoppen hier“, erzählt sie erfreut, „Musiker und Schauspieler“ habe sie schon begrüßt. Im Riptide bestelle sie gern Kaffee, und, da es eine Ecke in der Vintage-Galerie gibt, mit einem unverkäuflichen alten Sofa, uralten Bravos und einem Plattenspieler, auf dem bereitgestellte Platten zwar von den Kunden abgespielt werden dürfen – zurzeit läuft Boney M –, das Paar diese Platten aber nicht verkauft, verfährt sie wie folgt: „Wir schicken alle, die an Platten interessiert sind, rüber.“ Und das auch gar nicht so selten.

Alex und Sandra sind „real vintage lovers“, sagt sie, und sie selbst ist zudem auch Farb- und Stilberaterin, „ich mache individuelle Beratung“, denn sie sehe ihren Kunden intuitiv an, was ihnen stehen würde. Alex ist inzwischen „seltener hier“, sagt sie, „er ist viel auf internationalen Messen, in Amsterdam, Brüssel, Berlin“, und wenn Sandra ihn mal begleitet, bleibt das Geschäft geschlossen, da sie keine Angestellten haben. Aber viele Kunden, der Raum ist gut besucht, wie ich durchstöbern sie Geschirr, Teppiche, Spielzeug, Uhren, bestaunen Lampen an der Decke und die vielen Schuhe, die auf der dreiebenigen Treppe ins Obergeschoss die Stufen säumen. Da Sandra sich nun den Kunden widmet und Hardy bereits auf mich wartet, verabschiede ich mich von ihr.

Vor dem Riptide treffe ich Dennis und Dominik, letzterer mit einem vollen Tablett auf dem Weg ins Café, wir begrüßen uns flink. Zwar bedarf es einer Jacke, um unverfroren draußen sitzen zu können, aber draußen sitzen ist Pflicht. So sieht es auch Hardy, der bereits mit einem angetrunkenen Hefeweizenglas vor sich an einem der Draußentische sitzt. Hinter ihm ist noch reger Marktbetrieb, am Stand in direkter Nähe werden Spreewaldgurken feilgeboten, noch etwas weiter entfernt sieht man durch die geöffnete Tür der Martinikirche, dass in deren Innerem offenbar eine orangegelbe Lichtinstallation errichtet ist, bisweilen sind zudem Chorgesang und Orchestermusik zu vernehmen. Unter den Sonnenschirmen und den Laubbäumen wirkt der Platz einmal mehr wie auf einem impressionistischen Gemälde, mit den bewegten Sonnentupfern überall. Herrlich!

Das Bier ist verlockend, doch bestelle ich bei Dominik zunächst lieber einen Milchkaffee. „Du musst es ja wissen“, sagt er, und das trifft wohl zu. Mit dem Smartphone scanne ich den QR-Code auf dem Klemmbrett und Hardy und ich suchen uns aus, was wir heute verspeisen wollen. Ich möchte mal abweichen von meinem üblichen Mittagessen, alternierend Burger und Falafelfladi, für das sich nun Hardy entscheidet. Ich nicht, sage ich Dominik, und der tippt ins Blaue: „Du nimmst heute den Dönerteller.“ Und liegt damit auch noch richtig. Kann er in meinen Kopf gucken? Dominik nickt: „Das ist Kundenservice.“

Am Wochenende war Hardy in Börßum beim zweiten Bücherbahnhof, wie die dortige Büchermesse heißt, und präsentierte unter anderem seinen jüngsten Thriller „Der Flussmann“. Einer der Initiatoren ist Thomas Dahms, der sich für die Etablierung der Bezeichnung Ostfalia starkmacht und daher auch seinen Verlag so benannte, auf dem er unter anderem Dutzende historische Comics veröffentlichte, die er mit Zeichner Alexander Pavlenko erstellte. Von der Messe erfuhr ich bereits durch Guido, der mir Fotos davon schickte, von den Comics indes hatte ich noch nie gehört. Dominik reicht uns nun unser bestelltes Essen, ich schwenke jetzt ebenfalls auf Bier um, auf Wolters. Zum Dönerteller gehören auch Salat und Pommes mit einer Zaziki-Soße, das nimmt sich gut aus. Hardy hat nun eines seiner zwei Fladenbrote aufgegessen und ich den halben Dönerteller leergeputzt, da fragt er: „Wollen wir tauschen?“ Nein, das ist kein Scherz von ihm – und ja, warum nicht, beides schmeckt mir ja gut und teilen macht Freude. „Ihr habt getauscht“, stellt Dominik korrekt fest, als er mir mein Bier bringt, „schmeckt es dir nicht?“ Im Gegenteil, wir mögen beide beides, und damit ist er zufrieden.

Allmählich klappen die Marketender ihre Stände zusammen und rollen gemächlich vom Platz. Aus der Magnikirche schlendern Menschen mit Instrumentenkoffern in den Händen heraus und stromern durch die Sitzreihen auf dem Platz, also zum Riptide, zu Barnaby‘s Blues Bar, zum Café Lineli, zum Kleinen Café und zum Magni Boutique Hotel. Den Verkäufern folgen die Boulespieler, und ich weiß jetzt gesichert, dass sie Boule spielen und nicht Boccia oder Petanque, denn dahin korrigierte mich Volker vor einigen Tagen, als ich ihn auf dem Frankfurter Platz traf. Er spielt nämlich gelegentlich mit, sagte er mir, und berichtete, dass die relativ offene Gruppe sich sommers auf dem Löwenwall und winters vor der Magnikirche treffe, weil der Platz dort beleuchtet sei. Jenen Volker kennt Hardy schon ewig aus alten Zeiten und von gemeinsamen Aktionen, und er erzählt mir einige, auch aus Jahn- und Hugo-Luther-Straße. Wie mir jüngst vor dem Greek Haus auch Arnold und Gisbert Heinrich Geschichten aus dem Westlichen Ringgebiet zutrugen, für mich als erst vor 25 Jahren nach Braunschweig Gezogenem immer lehrreich.

Inzwischen übernehmen es Emma und Lia, zwischen den Tischen umherzustreifen und die Gäste zu versorgen, so auch Hardy und mich mit mehr Weizen und Wolters. Nur wenige Zentimeter von Hardy entfernt schlendert Marc zum nächst freien Platz bei Barnaby‘s Blues Bar, nur zwei Tische von uns entfernt. Er hat uns wahrhaftig nicht gesehen. Und wird dies wohl auch so einfach nicht, denn genau zwischen ihm und uns steht ein üppiger Blumenkübel. Hardy schickt ihm eine Whatsapp, da sieht Marc wenigstens meinen wedelnden Leisefuchs und grüßt, doch bis er auch Hardy ausmacht, muss er wirklich erst nach seinem Telefon greifen und dessen Nachricht lesen. „Na, dann komme ich eben zu euch“, sagt er und setzt sich eben zu uns. Sein Blick fällt nun auf die offene Kirchentür mit dem orangegelben Licht: „Oh, das Tor zur Hölle steht weit offen!“ In Sachen Getränk schließt er sich Hardys Hefeweizen an und ergänzt es um einen Ouzo.

Wenn ich schon mit den beiden Kollegen den Tisch teile, will ich’s auch wissen: Wird es einen dritten Teil geben? Denn 2019, kurz vor Corona, brachten Hardy und Marc, jener unter seinem Alias Till Burgwächter, die gemeinsame Geschichtensammlung „Braunschweig’sche Weihnacht“ heraus, die so beliebt war, dass sie ihr 2022 „Braunschweig’sche Verbrechen“ folgen ließen. Ja, bestätigen sie, die Gespräche für den dritten Band laufen und „der Herr Verleger“, so Marc, habe bereits abgenickt, also Andreas Reiffer, „aber dieses Jahr wird das nichts mehr“, und dem stimmt Hardy zu. Mehr verraten die beiden nicht, also auch nicht, was das Thema sein wird. Ist mir heute noch egal, ich kauf’s eh unbesehen. Und à propos Buch, von Schepper gibt’s auch gerade eins, und zwar mit Lyrik: „Gedichte Gedanken Gefühle & Gedöns“ bietet genau das. Einen neuen Song schickte er mir außerdem zu, in dem er seinen bass wie eine Orgel klingen lässt.

Emma bringt die nächste Runde Bier, eigentlich wollten Hardy und ich gerade aufbrechen, aber nun können wir Marc ja nicht einfach so sitzen lassen, wenn er sich schon eigens zu uns gesellt. Hardy mokiert sich über die Aufschrift auf einer Hafermilch-Packung, die besagte, das Produkt sei „100% vegan“, was auch sonst, „nur 50 Prozent“, oder wie, als würde man die Gemüsebeilage zur Fleischspeise als Messwert heranziehen und behaupten, das Eisbein mit Sauerkraut sei zur Hälfte vegan, „ich hab mich bemüht“, lacht Marc. Oder man sei nur zu 50 Prozent schwanger. Hardy schüttelt den Kopf und Marc läuft bei dem Gedanken an Eisbein das Wasser im Munde zusammen. Er erzählt von einem Sternekoch in Hankensbüttel im Restaurant Zur Linde, bei dem er gern aß, und ich staune, denn als ich vor über 30 Jahren dort zur Schule ging, war von Sterneköchen in der Nähe des Otterzentrums noch keine Rede. Marc indes genoss dort die zwei besten Suppen, die er je vorgesetzt bekam, und Hardy und mich spricht die zweite besonders an: „Essenz von Wildschwein“, erzählt Marc, „sah aus wie Leitungswasser“, aber sobald man einen Löffel davon nahm, breitete sich der Geschmack des Schwarzkittels vor allen Synapsen aus. Klingt nach Homöopathie, nur noch die Erinnerung an den Wirkstoff und so.

Hardy und Marc tauschen sich über Rock in Rautheim aus, Marc bestätigt Hardy, dass das Festival mehr und mehr an Bedeutung und Qualität gewinnt. Mir erzählte Andreas davon und Anke zeigte mir ein Video, von dem Marc weiß, dass es wohl von den Leuten von Hotel 666 erstellt wurde. Heavens Gate waren ein Höhepunkt für Andreas, der mir berichtete, dass er nachts nach dem Gig an einer Tanke auf Leute aus Spanien getroffen war, die nur wegen der Heavy-Metal-Instanz aus Wolfsburg nach Rautheim gekommen waren. Inder Tat, Sascha und Robert wären auch für mich ein wesentlicher Grund für den Besuch des Festivals gewesen. Marc und ich tauschen uns kurz über Neuerscheinungen im Metal aus, ich empfehle ihm Thou, er mir Messa.

Es wird spät, die Dämmerung setzt ein, es ist wunderschön, so kurz vor dem längsten Tag des Jahres, und wir beschließen den Aufbruch. Hardy und ich nehmen im Riptide noch unseren üblichen Scheidebecher zu uns, nämlich einen Jägermeister, an den sich Marc anschließt. Wir begleichen unsere Rechnungen, und als ich mich vor der Tür von Hardy und Marc verabschieden will, höre ich heraus, dass die beiden sich doch noch ein Gezapftes im Barnaby’s genehmigen wollen. Ach, weißte, so jung kommen wir nie wieder zusammen und so. Wir finden einen Tisch, es gibt Kilkenny für Hardy, Guinness für Marc und mich und ein wildes Mischgetränk oben drauf für Marc. Die Lampen gehen an, auch an unserem Tisch, ist nicht auch bald Fußball-EM der Männer, muss der Papst eigentlich den Kirchenaustritt eines Ex-Katholiken bestätigen, wie gut schmeckt es eigentlich bei Heyer, und warum eigentlich nicht noch eine Runde? Kommt noch einer kurz mit, Jütland besiedeln?

Matthias Bosenick

www.krautnick.de
Fakebook

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