#202 Karten raus!

Donnerstag, 11. Juli 2024

Beinahe sah es danach gar nicht aus, aber Arni und ich nehmen unsere Feierabend-Plätze tatsächlich draußen vor dem Riptide ein, auf dem Magnikirchplatz, wohlweislich unter einem der Sonnenschirme, man weiß ja nie und es sieht ja auch nicht immer nach Regen aus, bevor er einsetzt, und umgekehrt, manchmal beginnt es zu gießen, ohne dass es sich groß ankündigt. Aber der Spoiler sei gesetzt: Wir bleiben heue trocken. Zumindest äußerlich. Für innen bestellen wir bei Emma Fritz-Kola, für Bier ist es uns noch zu früh, ja, wir ernähren uns bewusster, je länger wir unsere Körper mit uns herumschleppen. Dazu ordert Arni den Dönerteller und ich greife auf Falafelfladi und Pommes zurück. Aus der Magnikirche ist wieder Roberts Dudelsack zu hören, aber Arni hat zu viel Hunger, um sich den Schall im Altarraum aus der Nähe zu geben, und hofft, dass Robert noch probt, sobald Arni satt ist.

Doch wir speisen länger, als Robert spielt, und auch die Marketender vom Wochenmarkt neben uns klappen längst ihre Stände wieder zusammen. Die Zeit rennt, wenn man sich lang nicht gesehen und viel zu erzählen hat. Dabei war unsere letzte Begegnung bei der Lesung von Sibylle Schreibers Buch „Das 3×8 der Liebe“ in der Kuba-Halle in Wolfenbüttel, zu dem Arni Illustrationen beitrug, und er stellt fest: „Das ist auch fast ein Vierteljahr her.“ Stimmt, das war im April. Ja, Zeit rennt. Für die nächste Getränkerunde bleibe ich bei der Kola, was Arni empört, der bei Annika explizit „einen freundlichen Espresso“ erbittet, was sie lächelnd quittiert mit: „Einen freundlichen, das nehme ich genau so auch auf!“ Und kredenzt sie ihm kurz darauf ebenso. Während Arni mich fragt, mit wie viel Zucker ich meinen Espresso trinke, und ich antworte, dass ich für Kaffee gar keinen verwende, außer beim Mokka, schüttet er sich die Rübenkörner kübelweise über sein Geschirr. Eben nicht nur in die Tasse, auch auf den Unterteller, was ihm zunächst als Hinweis darauf erscheint, sich mit Zucker doch besser einzuschränken, was er dann abwinkend verwirft und das Streugut doch noch vom Teller in die Tasse befördert.

Nachdem Arni und ich unsere Lebenssituationen voreinander ausbreiteten, landen wir natürlich bei Musik. Vor einiger Zeit war er mit einem Freund in Hamburg unterwegs, Platten kaufen, und ließ sich abschließend bei Michelle Records von der Hintergrundmusik zum Erwerb des entsprechenden Tonträgers verleiten. Was den Verkäufer freute, spielte er doch in der nämlichen Band: Jener Florian ist Teil des instrumentalen Noiserock-Trios OK Wait, für das Arni kurz darauf nach Hildesheim reiste, um es bei einem Livegig in der kleinen Location Thav zu fotografieren, inklusive der Begleitband Lazar, die Arni mir ebenso ans Herz legt. Die Platten kaufte er sich selbstredend auch gleich, inklusive T-Shirt. Mein letztes Konzert wäre Sunken aus Dänemark in Hannover gewesen, aber das klappte nicht. Ein T-Shirt bestellte ich immerhin via Bandcamp, als Ausgleich, für die Band wie für mich.

Vor gut zwei Wochen hatte ich Besuch aus Bonn: Meine Schwester Melanie war mit Freund Patrick und ihren jüngsten Kindern Hannah und Lisa da – beide wohnen längst nicht mehr zu Hause, von Kindern ist da eh längst nur noch der Ahnenreihe wegen die Rede. Der älteste Sohn Jonas konnte nicht dabei sein, leider. Was ein Wochenende: Wir starteten es am Freitag nach ihrer staubedingt verzögerten Ankunft vor dem Greek Haus, mit ordentlich Fleisch und Bier, das forderten die Rheinländer ein und bekamen sie auch so. Von Hannah lernten wir, was Saganaki ist, was uns zwar japanisch vorkam, aber griechisch ist, nämlich frittierter Feta, den es im Greek Haus auch gibt, aber unter der genannten Beschreibung, nicht als Saganaki. Könnte auch der Name eines japanischen Motorradherstellers sein, aber als solches Teekesselchen gibt’s ja schon Suzuki, stellte Patti fest. Nach dem Mahl wünschet sich Hannah einen Spaziergang, und da der Bürgerpark vom Frankfurter Platz aus nicht weit entfernt ist, schlugen wir die entsprechende Richtung ein.

Da fiel mir ein, dass ja auch noch Lichtparcours ist, es also zusätzlich zum Spaziergang im Park noch mehr zu sehen gab. Es dämmerte längst und aus der Ferne leuchtete uns schon die Strandbar Grinsekatz an, die vor einem Jahr die Okercabana abgelöst hatte. In direkter Nachbarschaft stellten wir uns unter die grüne Ampel, eine Hälfte des Kunstwerks „Swarm“ von Bettina Pousttchi. Hannah und Lisa wunderten sich: Man kann in Braunschweig nachts durch den Park gehen, ohne sich bedroht zu fühlen? Und überhaupt: Warum war hier nachts so viel los?! Ohne Kunst und Bar hätte es hier sicherlich auch etwas düsterer ausgesehen. Wir schlenderten weiter zum „(Platsic) Full Moon“, der über dem namenlosen Teich neben dem früheren FBZ von einem Kran herabhängt, und à propos schlendern, die Bonner freuten sich letztes Mal schon über den Slender Man, der auf dem Turm des alten Wasserwerks steht und eigentlich genau deshalb schlicht „Türmer“ heißt. Um die Kurve ging’s weiter zu „Assembly“ von Marinella Senatore, da am alten Bahnhof, in dem jetzt die Bank untergebracht ist und wo wir mit Rille Elf am 17. August auf Einladung des Vereins Kunstrauschen unter dem Motto „FestiHELL“ im Anschluss an ein Konzert von Kommando P auflegen. Den benachbarten „Bogen der Erinnerung“, eines von fünf verbliebenen Kunstwerken früherer Lichtparcourse, nahmen wir noch mit, dann brachte ich die Bande ins Hotel und verabschiedete mich mit „ich gehe noch einen saufen“, ohne zu ahnen, dass sich dies wahrhaftig zutragen würde, denn Ramazan winkte mich im Vorbeigehen ins Deniz Restaurant und kredenzte mir einen Raki.

Nächster Morgen: Nach einem Einkaufsbummel auf dem Wochenmarkt wünschten die Bonner, das Riptide kennenzulernen, denn bei ihrem letzten Besuch war es geschlossen. Dieses Mal nicht und wir okkupierten den größten freien Tisch für uns, herzlichst betreut von Chris. Nachdem er uns unsere Getränke darreichte, stieß irgendwer von den Bonnern das Bedauern darüber aus, dass wir keine Karten dabei hätten. Wir zocken uns nämlich, sobald wir Zeit miteinander verbringen, die Nächte um die Ohren. Kein Problem, wenige Meter weiter bei Krambambuli gibt’s auch Spiele. Also machten Hannah, Melli und ich uns auf den Weg, erwarben kurz bei Zweimalschön noch CDs und Bücher und nahmen bei Krambambuli Skyjo mit, das ich erst im Januar in Bonn zu lieben gelernt hatte. Mit etwas Verzug also kehrten wir zu unserem Tisch zurück und begannen, auf ihm die Karten auszubreiten.

Das war aber auch wieder schön: Ein sonnig erhellter Magnikirchplatz, überall Leute an den Tischen und unter den Schirmen und Bäumen, verteilt auf die Etablissements, schön warm, leckere Getränke, die Chris uns fortwährend nachlieferte, und dazu Karten spielen mit der Familie. Wie es sich passte, schrieb mir gleichzeitig Miriam, meine kleinere von den beiden kleinen Schwestern, dass sie sich gerade in Kopenhagen aufhielt. Alle beisammen, wenn auch partiell nur virtuell. Wir spielten Runde um Runde, es ist verzwickt, Skyjo macht sowas von süchtig, und flugs waren drei Stunden um. Komplett selbstvergessen genossen wir diese Zeit dort, bis uns Appetit auf Eis wieder Beine machte.

Dafür spazierten wir in die Stadt, einige labten sich bei der Apo-Eis-Theke, andere bei Giovanni L., alle umringt von Leuten, die sich schon auf das Fußballspiel vorbereiteten, das für den Abend angesetzt war: Bei der Männer-EM trafen Deutschland und Dänemark aufeinander, die Gegner des EM-Endspiels von 1992, aus dem die Dänen als Sieger hervorgegangen waren, nachdem sie Pommes futternd für Jugoslawien nachgerückt waren, weil dort der Krieg ausgebrochen war. Bis zum Spielbeginn nahmen wir aber noch die freundliche Aufforderung vom Ramazan an, uns im Deniz Restaurant zu ernähren. Als wir eintrafen, fragte man uns: „Habt ihr reserviert?“, was wir verneinten. „Zu fünft ohne Reservierung, ihr seid lustig“, hieß es – und man schob uns am Fenster Tische zusammen und schuf uns damit eine Möglichkeit, dennoch am Abendessen Teil haben zu können. Wir wählten die üppigsten Mengen aus der Speisekarte aus, Lara empfahl uns kurioserweise den frittierten Schafskäse, als hätten wir – bis auf Hannah – nicht erst den Abend davor davon erstmals überhaupt gehört. Als Ramazan uns entdeckte, tranken wir eine Runde Raki mit ihm. Jetzt waren wir vorbereitet: Das Spiel konnte beginnen.

Dafür hatten wir einen Platz am Greek Haus reserviert. Mit Jani und anderen Gästen hatte ich schon einige Partien dort gesehen. An dem Abend war der Platz rappelvoll mit Leuten, herrlich, da unter Bäumen und Schirmen und Menschen. Bis zum Anpfiff hatten wir noch eine halbe Stunde, also sagte irgendwer „Karten raus“ und es gab Skyjo zum Bier. Vor Gewittern warnten manche Apps, aber wir waren zuversichtlich, dass uns an diesem Abend noch keines ereilen würde – anders als die Fußballspieler in Dortmund. Dort unterbrach man wegen Sturzbächen das Spiel, was wir dazu nutzten, unseres fortzusetzen: „Karten raus!“ Und dann war Halbzeitpause: „Karten raus!“ In der einsetzenden Dämmerung fläzten wir uns auf die Bänke und verfolgten die zweite Halbzeit. Einige merkwürdige Schiedsrichter-Entscheidungen später war Deutschland eine Runde weiter: „Karten raus!“ Wir waren die letzten, die den Platz vor dem Greek Haus verließen und Jani seine verdiente Nachtruhe ermöglichten. Am nächsten Tag regnete es endlich auch bei uns, kann ja keiner ertragen, immer nur angenehmes Wetter, also spielten wir eben bei mir in der Küche Skyjo weiter. Bis es Zeit war, Abschied zu nehmen. Ein Granatenwochenende!

Für Arni und mich neigt sich der Nachmittag nun seinem Ende entgegen, doch wir wollen natürlich noch unbedingt im Riptide bei den Platten stöbern. In der Gratis-Kiste entdeckt Arni „Amapola“ von den Spotnicks, einer 60er-Instrumental-Band aus Schweden. Mir sagt das nix, sage ich, und Arni sagt, dass er es von mir kennt. Ich bin schockiert über mein schlechtes Gedächtnis, in der Tat, es war Erkennungsmelodie einer NDR2-Sendung von Carlo von Thiedemann. Wie gern würde ich alles, was ich mal wusste, permanent präsent haben. Das neue Album von Alcest ist aktuell nicht zu haben, findet Dominik am Computer heraus und vermeidet es verständlicherweise, den Titel „Les chants de l’Aurore“ auszusprechen, an dem zerbrächen wir uns alle die Zungen. Arni nimmt außerdem Marens Bestellung mit, „Vertigo Days“ von The Notwist, die mir auch noch fehlt, dafür hab ich ein Ticket für das Konzert am 11. Oktober im WestAnd, einen Tag, bevor Gudio, Onkel Rosebud und ich bei Radio Okerwelle den 20. Geburtstag von KrautNick feiern. Bei dem Konzert werden Maren und Arni ebenfalls zugegen sein, sehr schön.

Da Arni zum Bahnhof muss und ich noch einen Plan habe, begleite ich ihn bis zu meinem Etappenziel – dem Am Magni Kiosk, Am Magnitor 7a. Der ist in dieser Form selbst neu im Viertel, „seit letztes Jahr Februar“, erzählt mir Inhaber Mert. „Es war ein Jahr dicht, davor war es eine Kerzenwerkstatt und auch Kiosk, ein kleiner Kiosk“, fährt er fort und bedient munter seine Kundschaft, verkauft Wolters-Knollen, nimmt DHL-Pakete und Lotto-Scheine an, überreicht Zigaretten, nimmt Geld für Süßigkeiten, Zeitschriften, Softdrinks, Kaffee, Chips entgegen und Pfandflaschen zurück. „Heute ist alles anders“, sagt Mert, „die Kerzenwerkstatt ist raus, wir haben umgebaut, Berliner Flair, bisschen Zauber, ganz viel Liebe reingebracht.“ Das lässt sich auch am Logo des Kiosks ablesen, das in Herzform dargestellt ist. Inspiration holte er sich „aus allem, bisschen aus Berliner Kultur, eigene Kreativität, step by step aus dem Impuls heraus“. Er händigt einer Kundin ihr Wechselgeld aus und betont: „Wichtig, ganz viel Liebe hier drin und alle sind herzlich willkommen, das merkt man!“

Den Kiosk betreibt Mert parallel zu seinem Studium, aber nicht ohne Erfahrung: „Ich habe in der Gastro gearbeitet, im Soldekk, und im Einzelhandel, zuletzt war ich bei VW Werksstudent.“ Wegen des Studiums hat er auch einige Angestellte: „Ich hab coole Jungs, die mich unterstützen.“ Sein Plan für den Laden ist „einfach, dass es so weitergeht, dass es angenommen wird, dass wir unsere Liebe verteilen können – den Rest wird das Schicksal zeigen“. Der Standort für seinen Kiosk war einerseits Zufall und andererseits von sehr langer Hand vorbereitet: „Ich wohne selber im Magniviertel, ich bin hier groß geworden, das ist ein Herzensprojekt“, betont Mert. Und erzählt, dass er als Kind wohl seiner Mutter sagte, dass er genau diesen Laden einmal übernehmen wollen würde, sobald der zur Verfügung stehe, was seine Mutter ihm wiederum erst erzählte, nachdem bereits alles von ihm umgebaut war, denn selbst erinnern kann er sich daran nicht. Und jetzt steht er tatsächlich hier hinter der Theke.

Zu Merts Änderungen gehört auch, die eigentlich nie genutzte Terrasse des Kiosks mit Leben zu versehen. In der Tat, die Bänke und Stühle zwischen Bäumen und den zwei historischen Straßenlaternen vor dem Eingang sind fast alle besetzt, jemand arbeitet am Laptop, an anderen Tischen unterhalten sich die Leute, am lautesten zu hören sind die Fußballgespräche. Das Ensemble fügt sich perfekt in die anderen Draußensitzgelegenheiten ringsum ein. Die beinahe bis zum Riptide reichen: „Das ist unsere Nachbarschaft“, freut sich Mert, der „früher im Handelsweg einmal da“ war und jetzt wegen seines eigenen Kiosks die Zeit für Stippvisiten nicht mehr findet. „Die Kundin“, sagt er einmal mehr und ich räume sehr gern für sie meinen Platz an seiner Kassentheke. Mert und ich verabschieden uns, ich muss weiter: Ich bin noch im MokkaBär verabredet. Vielleicht gibt’s da seit heute einige Flyer für die WRG-Kulturtage, die nächste Woche stattfinden und an denen wir mit Rille Elf und dem „Ball am Bierhaus“ am Samstag in Harrys Bierhaus beteiligt sind. Ob ich eine Wolters-Handgranate mit auf den Weg nehme? Mal Mert ansprechen.

Matthias Bosenick

www.krautnick.de
Fakebook

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