Donnerstag, 15. August 2024
Lass mal gucken: Vierter Tag warm in Folge, ohne dass zwischendurch ein Gewitter kam, das Schwüle von heute früh ist auch vorbei, ein weicher Wind weht, ja, perfekt für einen Nachmittag auf dem Magnikirchplatz. Davon kann ich nicht oft genug schwärmen, wie schön das ist, was ich sehe, von meinem Sitzplatz vor dem Riptide aus, unter einem Sonnenschirm, mit Blick auf die Sitzmöbel der anderen Anrainer, die weitgehend vollständig besetzt sind, den Marktständen zwischen den Gästen und der Kirche, den Bäumen, deren Laub mit dem Sonnenlichtspiel den Wunsch wecken, mir eine Impressionismusausstellung anzugucken, den zwischen den Tischen flitzenden Kindern, den knallrot blühenden Stockrosen neben dem Eingang zur Magnikirche, den Fachwerkhäusern gegenüber, den Flaneuren auf den Kopfsteinpflastern, dem blauen Himmel, na ja gut, und dem Schreihals auf der Bank hinter mir, der Stundenlang in sein Telefon brüllt, aber hey, das ist halt Lokalkolorit, auch außerhalb des Lokals.
Von innerhalb des Lokals steuert Emma meinen Tisch an, ich erbitte eine Fritz-Kola bei ihr, ohne Glas, was sie gern auf ihrem Bestellgerät vermerkt. Erfrischend, zum Einstieg. An den Nachbartisch setzten sich Claudy mit Schwester „und Neffchen“ in der Kinderkarre, wie Claudy mir vorstellt, und dessen Mutter hakt grinsend nach: „Äffchen?“ Der flinke Nachwuchs hält die beiden wunderbar auf Trab, es gibt viel zu entdecken, sagt Claudy, und stromert mit ihm in der kunterbunten Magnikirchplatz-Kulisse umher. Da schlendert Hardy heran, wir sind verabredet, und begrüßt erst die drei und dann mich.
Bis Hardy sich für eine Speise entscheidet, legt er mit einem Hefeweizen vor. Er wählt dieses Mal den Dönerteller, ich greife auf den Burger zurück, beide freuen wir uns auf die Pommes, die zu unseren Menüs gereicht werden. Hardy erzählt von der wiederentdeckten alten Idee, Texte aus der Krimiwerkstatt, die er leitet, von den Nachwuchs-Autoren gelesen des Nachts bei Radio Okerwelle ausstrahlen zu lassen, und ich berichte von dem Vorhaben, den 20. Geburtstag meines Blogs KrautNick mit meinen Mit-Schreibern Guido und Onkel Rosebud im Oktober live aus dem Sendestudio zu zelebrieren.
Damit Dominik unsere Bestellungen auf dem Tisch unterbringen kann, müssen Hardy und ich ein wenig aufräumen. Mit meiner Lektüre des Buches „89/90“ von Peter Richter – eine Empfehlung von Onkel Rosebud und dessen kolumnentitelgebenden Freundin – bin ich inzwischen bis kurz vors Ende gekommen und zutiefst davon beeindruckt – und erschüttert. Was sich zunächst zu einem humorvollen Wende-Rausch in Dresden emporschwingt, sieht sich bald mit der brutalen Gewalt von Nazischlägern konfrontiert. „So war das damals“, weiß auch Hardy zu berichten. Nur einmal war er vor dem Mauerfall in Berlin, erzählt er dann; ich gar nicht, auch nicht überhaupt in der DDR, erst 1990. Jedenfalls war er 1988 mit seiner damaligen Band Fernes Arden auf dem Weg durch die DDR zu einem Gig in West-Berlin, und bei der Einreise in Marienborn winkten die DDR-Grenzer das Automobil der Braunschweiger zur näheren Kontrolle an die Seite, entdeckten doch die aufmerksamen Beamten unter den mitgeführten Kassetten eine mit der Aufschrift „Demo-Tape“. Er muss gar nicht weiterreden, ich lache laut. Ja, genau: Die Grenzer wussten nicht, was es mit einem solchen auf sich hatte, und fragten, um was für eine Art von Demo es sich handelte, die sie damit zu beschallen beabsichtigten.
Inzwischen sind Hardy und ich beide zu Wolters umgeschwenkt, Dominik reicht uns Flasche um Flasche und fordert uns scherzhaft zu weiterem Konsum heraus. „Ich stehe hier“, sagt er und stellt sich neben unseren Tisch, die nächste Bestellung abwartend. Als er dann doch an anderer Stelle gefordert ist uns an unserem Tisch nur vorbeischlendert, den Blick dabei explizit herausfordernd auf uns gerichtet, sagen Hardy und ich, gespielt genervt, abwechselnd und dann im Chor: „Ja.“ – „Ja!“ – „Jaaa-haaa!!!“ Und Dominik bringt uns zwei weitere Flaschen Wolters.
Als ich nach einer kurzen Stippvisite ins Innere des Riptide wieder vor die Tür trete, kreuze ich den Weg meines Ex-Nachbarn Dennis, der gerade mit seinem Fahrrad vorbeikommt, einmal mehr direkt vom Baden. Erst Dienstag fragte er mich, ob ich mit ins Stadtbad käme, doch war ich da anderweitig beschäftigt. Und: Wenn ich mal schwimmen gehe, dann lieber im Heidbergsee, direkt nach Feierabend mal kurz, da treffe ich dann auch immer Marco von den Tanzenden Kadavern, unverabredet. Dieses Jahr kam ich noch ins an den See, bisher, aber ich hoffe, dass noch etwas Sommer für solcherlei Aktivitäten übrig bleibt. Dennis will weiterziehen, ich zu Hardy zurückkehren, und als ich Dennis das sage, ruft er mir nach: „Wann kommt sein neues Buch?“ Und schiebt hinterher: „Nee, ich will keinen Druck aufbauen – sag ihm, ich drück ihm die Daumen!“ Das mache ich natürlich gern.
Die Dämmerung senkt sich über den Magnikirchplatz, Dominik schaltet die Tischlampe am Servicetisch ein, die Straßenleuchten glimmen, Lampions strahlen bunt, Lichter überall, auch ganz in der Nähe als Kunstwerk, ist ja wieder Lichtparcours, und wir haben mit Rille Elf das Vergnügen und die Ehre, Teil des Rahmenprogramms zu sein, denn wir legen am Samstag an Kunstwerk 11, „Assembly“, am Friedrich-Wilhelm-Platz nach einem Konzert von Kommando P auf. Ja, ich bin leicht aufgeregt. Vor unserem Aufbruch lassen Hardy und ich uns im Riptide noch von Dennis – einem anderen, klar – je einen Jägermeister kredenzen, dann begleite ich Hardy noch etwas, denn ich möchte als für das Riptide neuen Nachbarn endlich den Altstadttreff erkunden.
Vor dem Altstadttreff, Am Magnitor 14-15, sitzt Inhaber Sinan an einem Tisch unter einer der historischen Straßenlampen und blickt auf sein Tablet. Die Antwort auf meine Frage, seit wann es dieses Lokal gibt, drückt mich in die Stuhllehne: „Seit 1947“, beeindruckt er mich. „Seit Ende der Vierziger, genau weiß ich es nicht“, fügt er hinzu, und berichtet, dass es davor, zur Zeit der Nazis, eine Bäckerei gewesen war, deren Ofen man immer noch sehen kann und der unter Denkmalschutz steht. Soweit es Sinan bekannt ist, war die Straße in den Fünfzigern „Rotlicht-Milieu“, Etablissements wie „Wächter, Friedrich und dieses waren immer Gastronomie“, und dann hat man verfügt, dass die Frauen den Standort zu wechseln hatten, „bis in die Achtziger war das Dubiose hier“, sagt er und zuckt die Schultern, „das ist die Geschichte des Magniviertels“. Ab den Neunzigern erhielt es einen „anderen Ruf“, seitdem ist seine auch eher eine „Studentenkneipe“. Davor stritten sich noch Soldaten – „Engländer, Amerikaner, Franzosen und Deutsche aus verschiedenen Kasernen“ – darum, wem die Kneipe gehörte, „da gab es täglich Prügeleien“, doch machte die Grenzöffnung die Stationierung so vieler Soldaten obsolet und mit ihnen verschwanden auch solcherlei Probleme. „So endete die Geschichte der Soldaten und es änderte sich einiges“, sagt Sinan.
Im März 2001 übernahm Sinan die Bar und gab ihr einen neuen Namen: Bis dahin hieß sie Altstadt-Bierhaus, „doch das war mir zu billig, ich wollte von der Schiene weg und habe Schüler und Studenten reingeholt“, erzählt er. Ihn freut: „Es ist eine friedliche Community“. Auch überhaupt innerhalb des Magniviertels: „Alle Gastronomen kommen ohne Ausnahme gut klar, helfen sich gegenseitig, kommunizieren miteinander“, betont er. Und bemerkt: „Ich bin einer der Ältesten hier.“ Zu den Jüngsten gehört das Riptide: „Es hat zusätzlich die ganze Vielfalt bereichert, es hat mich mega gefreut, dass so etwas hier reinkommt, und zusätzliche Kunden“, strahlt er. Der Leerstand des früheren Outdoor-Geschäfts habe dem Platz nicht gutgetan, „die Leere war Scheiße“, daher sei der Einzug des Riptide „mega schön“. Zudem finde er es „mutig“ von Chris, diesen Neustart gerade in der Pandemie gewagt zu haben.
In Braunschweig ist der Kosovo-Jugoslawe Sinan seit 1986, in der Gastronomie seit 1989, mit italienischen Lokalen „in Helmstedt, Quedlinburg, Halberstadt, Braunschweig“, führt er auf, „Da Bruno am Bohlweg, da hab ich mal angefangen, und bei Stresa in der Welfenhof-Passage, da habe ich gearbeitet, und Dolce Vita“, fährt er fort. Und beginnt, alteingesessene Lokale in Braunschweig aufzuzählen, die seit Jahrzehnten vom selben Gastronomen geführt werden, wie Bogeys von Siggi am Marstall oder das Black Button, in dem die Taxifahrer und die Prostituierten morgens um vier noch Currywurst bekommen, „es gibt viele interessante Gastronomie-Objekte“, nickt er. Mit 19 begann Sinan als selbständiger Gastronom und ist dies bis heute. Er sinniert: „Ich glaube nicht, dass es in Braunschweig noch viele gibt – wenn es zehn sind vor mir, dann sind das viele, selbständig und in meinem Alter.“
Wir sitzen genau an der Ecke vor dem Eingang zum Altstadttreff, an dem Tisch unter der Laterne, neben uns Markisen mit weiteren Tischen darunter und Blumenkübeln daneben, und durch die Tür ist nach links die Theke zu sehen und nach rechts ein Gang ins Innere. Durch den führt mich Sinan nun und zeigt mir den denkmalgeschützten Ofen. Wie ein gotischer Spitzbogen überspannt der weiß gemauerte Ofen einen Bildschirm mit einem Kicker davor, an der Außenseite sind Schieber und andere technische Ofenobjekte angebracht. „Darunter ist der Rieselkeller, wo die Asche reinkommt“, erzählt Sinan und setzt seinen Weg schon fort. Eine Sitzecke aus Holz hat er sich aus England kommen lassen, überall hängen Bilder an den Wänden und Säulen, zwischen Bierwerbung prangt immer mal wieder das Konterfei von Che Guevara, ein DJ-Pult ist unter einem Vorsprung errichtet. Als ich gerade feststelle, dass ich die Orientierung verloren habe, führt mich Sinan zur Treppe nach oben, denn es folgen noch zwei weitere Geschosse. Die Theke im ersten öffnet er freitags und samstags, ganz oben unter dem Dach stellen vor allem Sitzwürfel das Mobiliar dar, es sieht aus wie ein Jugendzentrum, mit Fachwerk, Stickern, Kickertisch. „Ein größeres Objekt findest du kaum in Braunschweig“, schließt Sinan den beeindruckenden Rundgang.
Dann kehrt Sinan zurück zu seinem Tisch. Wir verabschieden uns und ich mache mich auf den Heimweg. Inzwischen ist es Nacht, das Magniviertel leuchtet bunt und der Mond zeigt an, dass er bis zum vollen Kreis nicht mehr allzu lang auf sich warten lässt. Eigentlich zu schön, um jetzt schon schlafen zu gehen, oder?
Matthias Bosenick