#204 Die Stimme seines Herrn

Mittwoch, 11. September 2024

Sobald ich Urlaub habe, sind auch mal andere Aktivitäten möglich als zu meinen regulären Arbeitszeiten. Heute zum Beispiel komme ich nicht wie sonst am geschlossenen Musik-Mewes vorbei, wenn ich auf dem Weg zum Riptide die Straßenbahnschienen hinter der Ägidienkirche überquere. Die Tür zum Eingang Ägidienmarkt 7 ist heute geöffnet und in dem alteingesessenen Musikalienhandel begrüßt mich Gerd. Als ich noch kein Braunschweiger war, also irgendwann in den Neunzigern, kaufte ich bei Mewes am Kohlmarkt Schallplatten ein, ich habe auch irgendwo noch eine alte Plastiktüte von damals, mit dem gebogenen Mewes-Schriftzug und dem nach unten verlängerten W in der Mitte. Das Geschäft residierte „bis 2001 am Kohlmarkt“, bestätigt mir Gerd. „Ich bin seit 1975 für Musik-Mewes tätig“, fährt er fort, und verrät, dass sein damaliger Chef, der Herr Mewes, gar nicht der Gründer des Geschäftes gewesen sein kann, denn das existiert genau seit dem Jahr 1900. Alteingesessen wusste ich, aber derartig alteingesessen, das hätte ich nicht geahnt.

Nachdem der letzte Herr Mewes das Geschäft 2001 aufgab, überlegte Gerd eine Weile hin und her und trat dann an ihn heran, um ihm mitzuteilen, dass er beabsichtigt, selbst einen Musikalienhandel zu eröffnen. Zur Freude seines Ex-Chefs, der ihm alles überließ, den Namen des Unternehmens, die Telefonnummer, Daten, Fakten, Hintergründe, „nehmen Sie alles mit“, zitiert Gerd ihn. An die jetzige Adresse im Magniviertel geriet Gerd, weil der Besitzer des Hauses seinerzeit „viel für Mewes gemacht“ hatte, „das war mein Entrée“. Nach fast zwei Jahren Lücke ging Gerd also hier an den Start, und zwar allein und zeitlich etwas verschoben, nachdem ein geplanter Co-Inhaber aufgrund anderer Pläne abgesprungen war.

Zwar hängt der Laden voller Geigen – und Gitarren, Balalaikas, Mandolinen, Keyboards, Drums, Flöten, Notenblätter, Ersatzteile, Schallplatten und mehr –, doch der Himmel über dem Musikalienhandel ganz allgemein nicht mehr ganz so sehr. Das Kundenkaufverhalten habe sich verändert, stellt Gerd fest, nicht nur mit dem Internet, zudem drückten Großabnehmer die Preise und „Corona hat dem Ganzen die Krone aufgesetzt“, deshalb suchte er sich weitere Standbeine, etwa einen Paketdienst im Geschäft sowie einen Nebenjob, dessentwegen er die Öffnungszeiten auf 10 bis 15 Uhr begrenzte. Der Paketdienst hat zudem einen angenehmen weiteren Nebeneffekt, erzählt Gerd: „Die Leute holen ihre Pakete ab und sagen, ach, wenn ich gerade da bin …“

Am besten läuft bei Gerd derzeit der Gebrauchtinstrumentenhandel: Kunden geben ihre Waren in Kommission bei ihm ab. Reparaturen bietet Gerd „nicht direkt“ an, aber: Wenn jemand neue Saiten für sein Instrument benötigt, „schmeiße ich die alten runter, öle den Hals, mache die Bundstäbchen sauber, was die Leute alles selbst nicht machen, das biete ich günstig an“. Plektren findet man bei ihm selbstredend ebenfalls, zudem hat Gerd eine immense Fülle an Ersatzteilen zur Hand, „unendlich viele“, wie er betont, und zählt auf: „Spannhaken, Böckchen, Snareschlüssel,  Klangkugeln, Klarinettenblätter, Saxophonblätter“, und selbst das ist lediglich eine kleine Auswahl. Vinyl wie früher hat er zwar auch da, aber lediglich eine aufgelöste Sammlung, zudem vereinzelte CDs – einiges davon habe ich bereits in meiner Sammlung, sonst hätte ich es jetzt gleich mitgenommen. Wie damals auf dem Kohlmarkt, da gab es die Tonträger „nebenan im Pop Shop und im Untergeschoss“, erinnert er sich.

Dafür drückt mir Gerd eine 7“ in die Hand, von einer Band namens Medley, und fragt mit dem Zeigefinger auf einem langhaarigen Herrn in weißem Hemd und mit Fliege auf dem Cover: „Kennst du den?“ Richtig: Das ist Gerd selbst, 1981, auf der Single mit den Songs „Kicks“ und „Killing Self Softly“. Ein weiteres Klein- , nein: Großod ist die von Wolters präsentierte LP „Weihnachtliches …“ mit Songs der Saratoga Seven Jazz Band, RemembeR und United K’s, und bei letzteren war Gerd ebenfalls Mitglied. Heute spielt er bei Loose & Lacey, „uns gibt es auch bei Youtube, mit Cover-Songs“.

Bei Youtube gibt es außerdem einen ganz besonderen Clip, der in Gerds Laden gedreht wurde: „Nile Rodgers war hier nebenan, im Steigenberger damals noch, der hat irgendwo in der Nähe gespielt, der ging spazieren, entdeckte meinen Laden, fragte, ob er einen Tag mit seinem Filmmann wiederkommen kann“, erzählt er. So kam es: Nile Rodgers durchstöberte und kommentierte das Sortiment von Musik-Mewes und veröffentlichte den Clip dazu im Rahmen seiner Reihe „A Day In The Life Of Nile Rodgers“ auf Youtube. Allerdings mit dem Stichwort „MEWS Musik“, „deshalb findet man es nicht“, lacht Gerd. Elf Jahre ist das jetzt her, Rodgers hatte einen Gig in Hannover und die Hotels dort waren ausgebucht, so kam er nach Braunschweig. Für Gerd selbst veränderte sich sein Blick auf die Musik von Rodgers‘ Disco-Band Chic, „das ist nicht so meine Musik, ich stehe mehr auf Hardrock-Sachen“, sagt er, „aber ich habe mich seitdem schlau gemacht, er hat auch für andere Leute komponiert, sehr erfolgreich“, darunter Daft Punk und David Bowie, dessen „Let’s Dance“ Gerd nach wie vor sehr feiert.

Dennoch liegt Gerds Schwerpunkt in harter Rockmusik. „Liliac verfolge ich seit längerer Zeit“, sagt er. Das US-Quintett macht Hardrock, „alles Geschwister“, wie er strahlend betont, und erzählt: „Die Sängerin hat früher Bass gespielt, als der Bassist noch zu klein war, und ich habe Aufnahmen, da steht der Keyboarder hinter seinem Keyboard“, er imitiert jemand Kleines, der hoch über sich auf Tasten zu drücken hat, „heute ist er ein Riese“, sagt er und wedelt mit der flachen Hand etwas oberhalb seines eigenen Kopfes. Das Debüt-Album von Lilac ließ er sich kostspielig aus den USA zukommen.

Seit zwei Tagen ist Herbst, zumindest das Wetter betreffend, wobei es sich heute vielmehr wie ein April ausnimmt. Während Gerd und ich uns unterhalten, stürzt ein Regenguss auf den Ägidienplatz, dabei kam ich bei strahlender Sonne in sein Geschäft. Wie es sich für den April gehört, verdrängt sie die Wolken auch gleich wieder und ermöglicht mir ein trockenes Weitergehen ins Riptide und Gerd nun den verdienten Feierabend. Wir verabschieden uns und er gibt mir noch eine der berühmten und begehrten Mewes-Tüten mit.

Als ich auf dem Magnikirchplatz eintreffe, sind bei sämtlichen Gastronomen die Stühle an die Tische gelehnt und somit auch gar nicht mit Gästen belegt. Ungeheuerlich, es ist doch noch Sommer! „Hast du gesehen, was da gerade herunterkam?“, fragt mich Anthea süffisant an der Theke, als ich sie darauf anspreche. Inga lehnt an der Tür zur Küche und bekräftigt: „Wir möchten ja nicht, dass dir der Kaffee wegweht!“ Oder gar, wie Anthea ergänzt: „Verwässert!“ Sie lachen und gestatten mir, mir draußen einen Platz zu suchen, sofern ich meine Bestellung direkt bei Anthea bezahle, was ich selbstredend umgehend erledige. Heute darf es wieder das Falafelfladi für mich sein, dazu eine große Schale Pommes mit Mayo, weil ich darauf hoffe, sie mit Chris teilen zu können, und eine Fritz-Kola, die ich direkt mitnehme.

Draußen suche ich mir einen Platz unter einem der Sonnenschirme, vorsichtshalber, dabei wärmt mich die Sonne gerade ganz ordentlich. Mir folgen zwei weitere Gäste, die sich an einen Nachbartisch setzen. Inga bringt mir das Fladi, „Hauptsache, es weht dir nicht ins Gesicht“, und Anthea die Pommes, „guten Appetit“. Wie erhofft, gesellt sich alsbald Chris hinzu und bedient sich bei den Pommes – so hab ich es mir gewünscht. Ich bin neugierig auf die Berichte zum Magnifest, an dem ich selbst nicht teilnehmen konnte.

Zunächst waren Andrea und ich kurz im Urlaub, und zwar in Travemünde – Guido per Whatsapp und Chris jetzt zitieren den Otto-Sketch mit dem dortigen Spielcasino –, wo wir mit Mitte 50 den Altersdurchschnitt bei den Touristen aufs Erheblichste senkten, aber dafür eine Unterkunft mit Riesendachterrasse direkt an der Trave hatten, mit Blick auf die Priwallfähren und die gigantischen Skandinavienschiffe, die allenthalben überhaushoch an uns vorbeischipperten. Und auf Möwen und Schwalben. Und auf Delle, den Delfin, der sich kurz blicken ließ, sehr zu unserer Freude. Und wir hatten Sommer, fast 30 Grad und mit Baden in der Ostsee. Jedenfalls kehrten wir erst am Samstag wieder zurück, und da hatte ich den erfreulichen Auftrag, in der Einraum-Galerie aufzulegen, im Handelsweg, also gegenüber der alten Adresse des Riptide, da feierte Christian Krüger seinen 60. Geburtstag und richtete Peter Glantz – gemeinsam bilden sie das Duo Krüger-Glantz-Quartett – ihm zu Ehren eine Ein-Tages-Ausstellung mit Fotos und Installationen aus. Was ein Fest! Und wie vielen Riptide-Ex-Nachbarn ich begegnete: Stecky vom Tante Puttchen, Helmut von der Strohpinte – seit 50 Jahren ist es nun seine – sowie Stefan von Comiculture etwa. Bei der Vorab-Besprechung vor einigen Wochen in Barnabys Blues Bar, also direkt neben dem heutigen Riptide, hatte Peter den Begriff Magnet-Kirche etabliert, was wohl auf einen Fehler der Autokorrektur seines ausnehmend smarten Telefons zurückzuführen war. Christians Geburtstag jedenfalls bereitete mir jede Menge Freude, nicht nur der gutgelaunten Tanzenden wegen, sondern auch der Begegnungen mit alten Bekannten und Freunden.

So war es mir eben nicht möglich, mir das Magnifest aus der Perspektive des Riptide anzuschauen. Ausgiebig viel Zeit hat Chris heute nicht, weil er gleich seinen ersten Yoga-Termin im Leben wahrnimmt, gegenüber bei Yvonne, und geht mit dieser Information direktemang in medias res: „Das ist meine Antwort auf das Magnifest.“ Er hat bereits vier Zettel mit Ideen und Verbesserungen für ein mögliches nächstes Magnifest zusammengestellt, erzählt er, und darauf findet sich auch der Punkt „Mitarbeiter-Entspannung“, die sich bei dem enormen Arbeitsaufkommen während der Veranstaltung als erforderlich erwies.

An den besten Pommes der Stadt knabbernd, erzählt Chris, dass er für das Magnifest tatsächlich eine Fahne mit der Aufschrift „Die besten Pommes der Stadt“ aus dem Fenster hängte. Fotos davon schafften es in diverse Blogs, Chris zeigt sie mir glücklich und erzählt, dass um das Riptide herum allesamt Profis ihre Stände errichteten, die in Sachen Kundenwerbung bestens ausgestattet waren, „alles blingbling“, und dass Chris sich daher zum Improvisieren herausgefordert sah. Etwa damit: „Ich hab eine Schreibtischlampe an die Fassade gestellt.“ Und damit, dass er zu Hause in dreistündiger Arbeit mit einem Edding den Satz „Die besten Pommes der Stadt“ auf einen weißen Kopfkissenbezug schrieb, jenen an einen Laubrechen knotete und dessen Stiel aus dem Fenster im ersten Obergeschoss ragen ließ, mit Kabelbindern befestigt. „Es war megawitzig, dass es wahrgenommen wurde“, freut sich Chris. Und fügt hinzu: „Den Satz habe ich genommen, weil jemand das bei Google geschrieben hat.“

Zwar gab es für die improvisierten Werbemethoden des Riptide „so viel positives Feedback“, es fielen Begriffe wie „Hingucker“ und „Bereicherung“, freut sich Chris, doch stellt er sich für ein mögliches nächstes Mal gerade deshalb die Frage: „Was müssen wir an Equipment besorgen, um sichtbar zu sein?“ Dieses Mal beteiligte sich das Riptide mit den bereits gelobten Pommes, aber auch mit Fladenbroten, Cocktails und einem Wolters-Bierwagen sowie Muffins und Brownies, gebacken von Inga. So anstrengend das Altstadtfest für sein Team auch war, Chris freut sich über die Stimmung auf dem Bierwagen, „die war überwältigend, die Jungs und Mädels haben getanzt“. Und übrigens war dies die Fünfzig-Jahr-Feier des Magnifestes, das 1974 erstmals stattfand, seinerzeit, um im Windschatten des damals neuen Horten-Kaufhauses zu bestehen, woraus sich dann die Magni-Werbegemeinschaft gründete. Sobald das Fest indes an Größe gewann, wurden Agenturen eingespannt, bis heute.

Nach dem für das Riptide eher unerfreulichen Magnifest im vergangenen Jahr ist Chris mit diesem deutlich zufriedener: „Wir konnten teilnehmen, wir hatten Zugang zum Platz, keine Gyrosbude vor der Tür, keinen Bauzaun, die Leute haben uns gesehen“, bekräftigt er. Erfolge, die einer Welle konzertierter Kritik aus den Reihen vieler Gastronomen und Geschäftsinhaber aus dem Magniviertel folgten und die möglichst erst die Anfänge von weiteren Verbesserungen für die lokalen Unternehmer sein sollten, so Chris. Er hat viele Ideen, „wir müssen das Konzept neu finden, Gespräche führen mit der Stadt, dem Stadtmarketing und der Magni-Werbegemeinschaft, wir sollten die vielen Magniviertel-Gruppierungen einbinden, es gibt ein großes allgemeines Interesse“, betont er. Und strahlt euphorisch: „Wie geil das wäre, was hier für ein Potential drinsteckt, wie man sich einbringen könnte, auch musikalisch!“

Chris‘ Yoga-Termin rückt näher, außerdem auch in persona Sarah und Jörg, die ich kurzerhand ins Café begleite, da sich soeben eine Wolke vor die Sonne schiebt. Das Riptide ist inzwischen rappelvoll, weshalb Chris uns noch flugs die Kette zum Obergeschoss entfernt, damit wir dort einen Platz finden können. Nach uns strömen weitere Gäste hoch, auch oben ist es im Nu durchgehend besetzt. Wir drei setzen uns an einen Tisch an den Butzenfenstern – so ungern ich das Ende des Sommers jetzt auch vor Augen habe, so sehr mag ich doch diesen Platz. Jörg und Sarah berichten von aktuellen Veränderungen im Kufa-Haus und fragen, wann wir mit Rille Elf dort mal wieder unsere Burning Beats ausrichten. Guter Hinweis, da müssen wir noch Termine finden. Als nächstes sind wir jetzt am Samstag wieder in Harrys Bierhaus, besser: zum „Ball am Bierhaus“ direkt daneben, sowie am Freitag, 27. September, im Café MokkaBär am Frankfurter Platz, dann ziehen wir nämlich „Herbstzeitlose“, unterstützt von Tom Bola.

Sarah bestellt bei Dominik einen Hotdog und einen Chai-Tee, Jörg und ich beschränken uns auf jeweils eine eigene Fritz-Kola. Wir bekommen Gläser dazu, die gar nicht nötig gewesen wären, was Sarah bestätigt, „aus der Flasche schmeckt es besser“, nickt sie, und schiebt nach: „Sagen Leute.“ Im Kufa-Haus tut sich derzeit so einiges, auch personell. Es geht voran, grundsätzlich, die Freundschaft zum WestAnd vertieft sich, ein neues Podcaststudio, eingerichtet von Timo, geht demnächst an den Start, und Jörg wird überschwänglich: „Ich liebe dieses Haus!“ Das kann ich sehr gut verstehen.

Da Sarah und Jörg noch Termine haben, verabschiede auch ich mich nun für heute aus dem Riptide, nehme aber noch meine eingetroffene Bestellung mit, nämlich „Stop Making Sense“ von den Talking Heads als Doppel-LP inklusive der drei Songs, die zwar Bestandteil des Konzertes waren, es aber vor 40 Jahren nicht in den Film schafften. Muss ich natürlich haben. Wie es der April will, regnet es auf dem Heimweg, und zwar auf eine recht seltsame Weise: Im Schein der Sonne kann ich auf dem Weg vor mir den Regen sehen, bevor er mich erreicht. Nicht schlimm, ich hab ja als Schutz für die Schallplatten eine Mewes-Tüte dabei!

Matthias Bosenick

www.krautnick.de
Fakebook

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