#205 Tage des Schwindels

Dienstag, 15. Oktober 2024

So ein schöner, sonniger Herbsttag! Goldener Oktober, wahrhaftig und nach Lehrbuch. Buntes Laub an den Bäumen, von denen es im Innenstadtumfeld ja dann doch einige gibt. Darf man ja nicht vergessen, dass direkt neben der Fußgängerzone der Bürgerpark beginnt, hinter dem als nächstes quasi nur Wolfenbüttel kommt. Die Fuzo ist also bereits Stadtrand in Braunschweig. Da komm ich auf dem Weg zwischen Franky und Magni, also zwischen zu Hause und Riptide, automatisch an bunten Bäumen vorbei. Nicht mehr am Lichtparcours, leider, der endete zehn Tage zuvor und hatte einen Teil seiner Exponate auf den Bürgerpark verstreut, das war eine leichte Erreichbarkeit vom Westen aus.

Das hat aber auch wieder Spaß gemacht, einmal die Runde zu drehen, die Oker entlang, so hab ich das bisher jedes Mal gemacht, seit dem Jahr 2000, als es den Lichtparcours mit den illuminierten Kunstwerken erstmals gab, als Seitenarm der Expo in Hannover. Begonnen habe ich dieses Mal im Westen über den Norden, da gibt es immer die weitesten Gehstrecken ohne Kunst, um über den Osten kommend im Bürgerpark die Runde abzuschließen. Schlau, wie ich war, hab ich vorher im Netz noch geguckt, ab welcher Uhrzeit die Lichter angehen – das war ab drei Tage vorher bereits um 18 Uhr –, vergaß aber dabei, zu gucken, wann sie wieder ausgeschaltet werden, nahm die seit 24 Jahren üblichen 1 Uhr an und wurde inmitten des Bürgerparks um Mitternacht eines Besseren belehrt, denn mit der früheren Aktivierung ging eine um eine Stunde vorgezogene Deaktivierung einher. Nicht schlimm, mir fehlten auf der Runde dann nur drei Objekte, die ich eh schon kannte, weil um die Ecke und weil eins davon mit Rille Elf bespielt, die bunte Fassade der Sparkasse nämlich, ein wunderbarer Abend, nebenbei. Die Quallen am Architektenhochhaus waren ebenfalls einmal unsere DJ-Kulisse, aber da war es noch hell, im Zuge meiner Runde erlebte ich sie so richtig im Dunkeln, und das war beeindruckend. Ebenso der Farbring, wenn die Boote dessen Spiegelung im Okerwasser verwirbelten, oder der in rotes Licht getauchte Wallrest am Herzog-Anton-Ulrich-Museum, eine unheimliche Atmosphäre. Und nun baumelt der gigantische Müllmond nicht mehr vom Baukran, wenn ich am Bürgerpark vorbeischlendere, um ins Riptide zu gelangen, sehr bedauerlich.

Das ganze Laub auf dem Kopfsteinpflaster und zwischen den Möbeln, der Magnikirchplatz sieht auch mit hochgeklappten Stühlen an den Draußentischen idyllisch aus. Das Klackern der Boulekugeln deutet darauf hin, dass die Spielenden den Herbst ebenfalls eingeläutet haben, denn sie kehren vom Löwenwall ins Magniviertel zurück, sobald es dunkler wird, weil der Platz beleuchtet ist. Macht nix, dass die Tische unbesetzt zu bleiben haben, dann sitze ich eben drinnen, auch wenn die Draußenzeit für dieses Jahr schon wieder viel zu kurz ausgefallen ist, und finde das Café mehr als gefüllt vor. „Oben ist noch was frei“, sagt Anthea, aber mein Drinnen-Stammplatz unten ist ebenfalls noch zu haben, der ganz rechts am Fenster mit Blick auf die Straße Ölschlägern, zumindest mit anteiligem Blick heute, ein Poster verhindert den kompletten Durchblick, aber auch den nach innen, nicht schlimm also, wenn man sich schon etwas Mühe geben muss, um als Flaneur einen Blick auf meinen zu erwartenden Teller erhaschen will.

Den Bonanza-Burger würde ich gern bei Anthea bestellen, doch: „Den gibt’s nicht mehr“, bedauert sie, und hat gleich eine Empfehlung parat: „Aber Selbstgemachte-Falafel-Burger und Riptide-Burger.“ Ersteres ist mir neu, soll man nicht glauben, also bestelle ich einen solchen und dazu ein Wolters. Das steht schon an meinem Platz, als ich vom Plattengucken zurückkehre, und den Teller mit dem Burger bringt mir Enno fröhlich lächelnd an den Tisch.

Ein bisschen muss ich stutzen, doch will ich ihm das nicht sagen, denn erst vor wenigen Wochen starb ein Enno, den ich kannte, und von dem ich durch Ilona vom MokkaBär erst erfuhr, dass er eigentlich gar nicht Enno hieß, was auch ihr bis zu der Nachricht nicht klar war. Man kannte ihn als Kneipier im Kontakthof, erzählte man sich, und ich erst als humorvollen geschichtenerzählenden Mit-Gast im MokkaBär und als Radfahrer in Riddagshausen, wenn er mir in meiner Mittagspause auf dem Weg zu seinem Garten begegnete. Und von noch jemandes Tod erfuhr ich kurz darauf: Riptide-Stammgast Marcus sei verstorben, hieß es auf Facebook, und das womöglich bereits im Mai. Ihn kannte ich aus der Rip-Lounge, in der er, wie ich jetzt, am Fenster saß und, anders als ich jetzt, auf seinem Laptop Youtube-Videos schaute. Er trug Ledermütze, Weste, Mantel, Taschenuhr, rauchte Pfeife und fuhr ein kleines Klapprad. Eigentlich war er überall anzutreffen, wo es Kultur gab, und auch sonst begegnete ich ihm immer wieder irgendwo in der Stadt, sogar einmal auf Höhe der Katharinenkirche, als ich gerade ins Hermans spazierte. Er wusste immer irgendwas zu erzählen. Ein Original, ein „bunter Hund“, wie Chris meinte, als ich ihm davon berichtete. Enno und Marcus sind zwei, die der Stadt fehlen werden.

Mich mit Chris heute zu unterhalten, ist an diesem Platz nicht möglich, denn er hat bereits Feierabend, erklärt Anthea. Schade. Aber ich traf ihn am Samstag im WestAnd bei The Notwist und wir waren beide, na: alle, die da waren, höchst entzückt von dem Konzert. Kleiner Funfact: Was den Namen der Band und den der Location eint, ist, dass nicht jedem klar ist, an welche Stelle bei der Aussprache die Unterbrechung gehört: No-Twist, Not-Wist? West-And, We-Stand? Bei letzterem erklärt es die Binnemajuskel – dieses Wort geht raus an Guido! –, bei ersterer vermutlich die Bequemlichkeit für die Sprechenden. Wie auch immer, die Band ließ mit ihrem unüberschaubaren Stilmix alle glücklich zurück, darüber herrscht einhellige Meinung, das muss man mal schaffen, nach 35 Jahren immer noch und wieder.

Am Vorabend des Notwist-Gigs erlebte ich die lebende Banjo-Legende Clarke Buehling im MokkaBär, am Abend darauf feierten wir zu dritt den Online-Blog KrautNick, der nämlich jetzt gerade 20 Jahre alt wurde, mit einer Live-Sendung auf Radio Okerwelle, für die uns Marvin dankenswerterweise seinen Sendeplatz zur Verfügung und sich selbst wärmstens beratend zur Seite stellte: Dafür reisten eigens meine beiden Mitstreiter Guido aus Clausthal-Zellerfeld und Onkel Rosebud aus Dresden an. Den Onkel kennen Guido und ich, weil wir zu zweien seiner Anthologien mit dem Titel „Ich liebe Musik“ Beiträge beisteuerten. 1999 waren wir noch zur Releaseparty in Dresden, da trafen wir ihn erst- und zunächst auch letztmals, denn die Party 20 Jahre später zum zweiten Band fiel Corona zum Opfer. Vor zwei Jahren holte ich das Treffen in Dresden spontan nach und verbrachte Zeit zuerst mit dem Onkel, später noch mit dem Verleger René. Jener versieht mich gern mit seinem Oeuvre literarischer wie musikalischer Natur für KrautNick-Rezensionen und ersterer verlegte seine in den Neunzigern im Studi-Magazin „ad-rem“ begonnene und mit deren Ende niedergelegte Kolumne „Was meine Freundin gerne hört“ auf die Plattform KrautNick. Gleichzeitig mit dem Onkel begann Guido damit, wie vor 20 Jahren kurz nach Gründung von KrautNick, seine Tätigkeiten als Rezensent wieder aufzunehmen. Jetzt habe ich – erstmals nach Olafs Austritt ein Vierteljahr nach Launch des Magazins – wieder das wunderbare Gefühl von Team, von Gemeinschaft, von Projekt, wenn es um KrautNick geht. Das tut mir gut und ließ mich auch mit der Aufregung, drei Stunden lang live im Radio zu erzählen, besser umgehen, weil ich mich darauf verlassen konnte, dass mir die beiden versiert Verantwortung abnahmen. Was ein Spaß das war, das müssten wir eigentlich öfter machen, stünde nicht die Reisezeit im Weg.

Die Idee, statt eines Pattys eine selbstgemachte Falafel in einen Burger zu integrieren, sollte mit einer eigenen Party begangen werden. „Hat es geschmeckt?“, fragt Enno, als er den leeren Teller wieder mitnimmt, und ich kann nur kauend nicken. Beim Blick aus dem Fenster, vorbei an dem Plakat, fällt mir nebenbei auf, dass der Vintage-Laden gegenüber schon wieder leer ist, gerade im erst zweiten Jahr an diesem Platz. Ein weiterer Geschäftswechsel fiel mir vorhin auf dem Weg ins Riptide auf: Das Tattoohaus befindet sich nun in der Kuhstraße 1a, in den Räumen der früheren Magnibar, die sich dort auch lediglich drei Jahre hielt. „Hier war immer Gastro drin“, sagte mir Inhaber Marcel, als ich das Studio als neuen Nachbarn des Riptide betrat. „Nee, falsch“, korrigierte er sich selbst, „hier war auch ein größeres Unternehmen drin“, und aus der Zeit stammen die gefälschten Holzbalken – bis auf den großen in der Mitte, der ist echt – und die Steinblenden, die hohl klingen, wenn man darauf klopft, was Marcel grinsend belegte.

Als ich das letzte Mal diese Straße entlanggegangen war, prangten da noch keine Schilder vom Tattoohaus an der Fassade. „Wir haben am 1. Oktober geöffnet“, bestätigte Marcel. Er selbst sei schon seit 13 Jahren in Braunschweig und mit seinem Geschäft von einer anderen Adresse außerhalb des Magniviertels hierher umgezogen, „ich habe einen klaren Schnitt gemacht, das andere ist Vergangenheit“, winkte er ab und schob direkt nach: „Nicht negativ, aber: Das hier ist neu, deshalb auch ein neuer Name.“ Nach Braunschweig war er, wie ich, aus der Heide gekommen: „Ich bin gebürtig aus Celle“, dort hatte er auch zu Tätowieren gelernt. Marcel teilt sich das Studio mit zwei Kolleginnen; dieses Wort verwendete er, um herauszustellen, dass er sie als gleichwertig empfindet. Die erste Kollegin ist Alina, „Lehrling, ist aber im Prinzip schon durch“, und die zweite ist Valerie, „Ukrainerin, sie will in Deutschland bleiben“, und die Aussichten darauf stünden gut.

Am Magniviertel habe Marcel zuerst das Gebäude gefallen, in dem er sein Tattoohaus eröffnet hatte: „Ich habe mich umgeguckt und das hier gefunden“, schwärmte er, „es ist Fachwerk – ich komme aus Celle, wie gesagt, ich liebe es!“ Mit Alina hatte er sich das Gebäude angeguckt – „ich entscheide zwar, aber ich hole Meinungen ein, das gute Arbeitsklima ist das A und O“ –, und: „Sie fand es auch Klasse hier.“ Er deutete auf den Sims über der Feuerstelle, den er am Wochenende frisch gestrichen hatte, „es gibt noch einiges an Arbeit, es ist noch nicht ganz fertig“, so sei der Piercing-Raum noch zu streichen, in „Mahagonibraun“, um einheitlich zu bleiben.

Dabei hatte Marcel zuvor mit dem Magniviertel nicht viel zu tun. „Ich war vorher sechsmal hier“, sagte er, „viermal auf dem Magnifest und ansonsten bei Ohlendorf.“ Gefragt, ob er sich hier wohlfühle, schoss er wie aus der Pistole: „Ja, das tue ich!“ Zunächst habe er sehr wohl Zweifel gehabt, einen Laden nicht „in A-Lage“ zu eröffnen, „mit potentiellen Kunden, die vorbeilatschen, das hast du hier nicht“, aber dann sei ihm der Gedanke gekommen, dass es ja bereits eine Menge Studios außerhalb solche Idealplätze gebe, die auch alle über die Runden kämen, und befand: „Es muss funktionieren.“ Wie zur Bestätigung kam ein junges Paar herein und bestellte bei ihm einen Tätowiertermin, für den Marcel die beiden einfühlsam beriet.

Im Magniviertel sei es wesentlich ruhiger als in der Innenstadt, freute sich Marcel: „Wenn du um die Kurve rumgehst, bist du in einer anderen Welt“, also hinter Hochten die Straße ins Magniviertel hinein, vom Bohlweg aus gesehen. Auch mit den Nachbarn hatte Marcel noch vor der Eröffnung schon Freundschaft geschlossen, er zitierte: „‚Wenn du Hilfe brauchst‘, superfreundlich.“ Der Geschäftspartner eines Nachbarn half ihm dabei, das Deko-Motorrad ins Studio zu hieven, und das Klavier erhielt er von einem anderen Gastronomen aus dem Magniviertel.

Sessel und Sofa, Tisch mit Ordnern voller Tätowiermotive und eine Theke mit einem Regal voller Dekostücke empfangen die Kunden zusätzlich, an der Wand unterhalb der Treppe ins Obergeschoss, in dem sich das eigentliche Tätowierstudio befindet, hängen offenbar absichtlich leere Bilderrahmen gestaffelt durcheinander. Der Raum strahlt nicht aus, zu einem erst zwei Wochen alten Laden zu gehören. Lediglich Internet und Telefon funktionierten noch nicht, man erreiche Marcel zurzeit noch lediglich via Instagram und Facebook. Außer Tattoos und Piercings, erwähnt Marcel, gibt’s im Tattoohaus auch Permanent Make-Up, das Valerie anbietet, zudem: „Sie macht die realistischen Sachen“, er selbst tätowiert lieber eher abstrakt.

Noch nicht geschafft hat es Marcel ins Riptide, für ihn kommen der Wohnlage und der damit verbundenen Fußläufigkeit wegen eher das X-Trend und das Sausalitos in Frage, sofern er denn überhaupt weggehe. Platten habe er früher bei Rocktop im Bohlweg gekauft, auch dafür habe es ihn ins Riptide noch nicht verschlagen. „Auf deinen Platz“, rief Marcel plötzlich, und als ich dem Aufruf schon beherzt Folge leisten wollte, stellte ich fest, dass der einer Continental Bulldog namens Herrmann gehörte, die eben um die Theke herumschlendern wollte. Den Hund habe Marcel aus dem Tierheim geholt, berichtete er, und dass es sich dabei um eine noch junge Rasse handele. Und Herrmann wisse, wie er an die Schokoladenkekse herankomme, mit Unschuldsmiene zumal, lachte Marcel.

Valerie und ein Begleiter schlenderten die Treppe herab und verabschiedeten sich von Marcel und mir. Wir Zurückgelassenen schnitten zahllose Themen an, so berichtete Marcel etwa, dass es zu früheren Zeiten üblich war, wenn man in einer Stadt ein Tattoostudio eröffnen wollte und es habe dort bereits eines gegeben, dass man sich dort vorstellte und um Erlaubnis bat, „das gibt’s heute nicht mehr“. Und er betonte, dass es zu seinem Ethos gehöre, nicht über die in anderen Studios angefertigten Tattoos der Kunden zu urteilen. Zuletzt empfahl er mir OG Tacos, die kleine Tacoschmiede „um die Ecke“, neben dem Haus Dänemark, die mit einem ähnlich ungewöhnlichen Gastrokonzept wie die Zimtschneckenbäckerei Cinnful neben dem Universum-Kino die Massen anlocke. Die Tacos auszutesten behielt ich mir für ein nächstes Mal vor, heute wollte ich im Riptide essen.

So geschah es ja auch. „Und, wie fandst du den Falafel-Burger?“, fragt mich Dominik, als ich zum Bezahlen zu ihm an die Theke trete. Da kann ich mich nur wiederholen, beste Idee. Platten sind dieses Mal keine für mich im Lager, meine ich, und Dominik sagt: „Für dich gehe ich nachgucken“, geht nachgucken und bestätigt meine Annahme. Exklusives Vinyl ist ja schon wieder für den Black Friday angekündigt, einer Art zusätzlichem Record Store Day, dieses Mal am 29. November. Weit vorher, nämlich am 7. November, beehrt Marcel Pollex das Riptide mit seiner zweiten Lesung in diesem Jahr an diesem Ort, darauf freue ich mich auch schon. Am 12. November spielt Armano, die monatliche Quiznight kehrt am 13. November zurück, und dann ist ja auch bald Filmfest. Ja, schade, dass der Winter vor der Tür steht, aber schön, wie das Licht das Magniviertel bunt schillern lässt – und was alles auch drinnen an Veranstaltungen Freude bereitet.

Matthias Bosenick

www.krautnick.de
Fakebook

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