#206 Alles gut, natürlich!

Donnerstag, 7. November 2024 Heute macht Marcel Pollex sein Versprechen wahr, das er im Januar an gleicher Stelle gab: Er möchte so einen schönen Abend nochmal im Riptide machen, sagte er da. Ein zu erwartendes Licht in diesen trüben Tagen, typisch November eben, alles grau, leicht feucht, kaum noch buntes Laub an den Bäumen, die Weihnachtsdeko ist noch nicht angebracht, das wäre vor dem Ersten Advent auch nicht angebracht, auch wenn sich Weihnachten immer weiter nach vorn im Kalender ansiedelt, obwohl ein Ausdehnen in den Januar und den Februar geeigneter wäre, da ist es dann ja wieder dunkel und farblos. Sofern es nicht so schöne Abende zu erwarten gibt wie den heute. Zeitig, aber dennoch bereits im Dunklen mache ich mich ins Magniviertel auf, begegne Christian, mit dem ich später im Riptide verabredet bin, und mache in der Langedammstraße 13 einen Laden aus, der mir nicht vertraut ist. Das Schaufenster ist ästhetisch dekoriert, ein Schild strahlt die Information auf die Straße, dass der Laden geöffnet sei, also drücke ich die schwer anmutende, aber leichtgängige Holztür auf und begebe mich ins Innere des Ladens, dessen Name draußen mit Hanfbar angegeben ist. Da klingelt etwas bei mir, und Emilie und Marcel, die mich drinnen begrüßen, bestätigen meine Ahnung. Marcel ist Gründer der Hanfbar, erzählt er, die erst „seit knapp zwei Monaten“ im Magniviertel residiert, aber bereits sieben Jahre auf dem Buckel hat: Start war in der Mühlenpfordtstraße, „dann sind wir in die Innenstadt gezogen, dann in die Güldenstraße …“ Also doch diese Hanfbar: Innenstadt, das war nämlich in der Friedrich-Wilhelm-Straße, gegenüber meiner alten Wohnung, und das war der Laden mit all dem Ärger, der durch die Medien ging, wegen des Verkaufs vermeintlich illegaler Substanzen. Marcel seufzt. Im vergangenen Jahr, so erzählt er, sollte es einen Gerichtstermin geben, der kurz vorher abgesagt wurde – „wir haben uns geeinigt, außergerichtlich, es wurde fallen gelassen, wir haben keine Strafe bekommen“, schließt er das Thema erleichtert ab. Emilie hat Feierabend und verabschiedet sich, Marcel fährt fort. Er lebt gar nicht mehr in Deutschland, vor zwei, drei Jahren wanderte er nach Thailand aus. „Natürlich helfe ich noch mit, den Laden voranzubringen“, sagt er, und so ist es also Zufall, dass ich ihn heute hier erwische, denn morgen will er schon wieder auf dem Rückweg sein. „Wir haben das Konzept nach Thailand gebracht“, erzählt er. Und zwar das ursprüngliche, das im neuen Laden im Magniviertel nicht mehr zu finden ist: „Wir haben begonnen als Café“, mit Smoothies, Energy-Balls, „gesunde Naschereien“, bis Corona den Gastro-Betrieb erlahmen ließ: „Wir haben es runtergefahren und nie wieder gestartet, wir haben nur noch die Produkte, weil die auch sehr beliebt sind.“ Anders in Thailand, „da machen wir das“, in einem vierstöckigen Gebäude sogar: Im ersten Stock ist das Café untergebracht, im zweiten Raum für Coworking und Events, im dritten Yoga „und im vierten bauen wir an“. In dem verkleinerten, gemütlichen Raum mit Holzbalken darin bietet die Hanfbar eine breite Palette an Produkten an, warm illuminiert, ansprechend arrangiert. „Wir haben wundervolle Naturkosmetik“, beginnt Marcel, „Handcreme, Muskelgel, Sachen mit speziellen Effekten“, etwa Schmerzlinderung, offenbar sehr wirkungsvoll, denn: „Die Leute kommen zurück und kaufen mehr Gel.“ Wund- und Heilsalben gehören zum Programm, aber: „Keine Kosmetik wie Anti-Falten, sondern mit Sinn und Zweck, zum Beispiel bei trockener Haut oder Neurodermitis.“ Das „Hauptprodukt“ indes ist ein anderes: „CBD-Öle, Blüten – das, worum es die ganze Zeit ging“, sagt er und erklärt, dass der THC-Gehalt in den CBD-Blüten zwar „sehr gering“ sei, „hilft aber zur Entspannung, bei Schmerzen, bei neurologischen Geschichten“. Wobei sich der Effekt unterschiedlich auswirken kann, „manchen hilft es beim Schlafen, manche macht es aktiver“, was an den jeweiligen Terpenen liege, den Duftstoffen in der Hanfpflanze, wie man sie „auch in Rosmarin, Thymian, Lavendel“ findet, so Marcel, „was Pflanzen den Geruch verleiht“. Zur Veranschaulichung reicht mir Marcel einige Duftproben, denen ein Gemisch entströmt, das ich nicht zu entschlüsseln in der Lage bin, Marcel mir aber erläutert. Minze rieche ich heraus, einmal auch Schokolade, aber da liege ich daneben. „Unterschiedliche Terpene beeinträchtigen das Wirkspektrum, obwohl sie alle im Kern CBD beinhalten“, schließt er. Aus der Dunkelheit da draußen betritt Robert den Raum, er hat die Leitung der Hanfbar hier vor Ort übernommen. Marcel meint zur reduzierten Raumgröße, „wir brauchen nicht dringend so viel Platz“, schließlich gebe es den Café-Betrieb ja nicht mehr. „Eat The World ist manchmal da“, wirft Robert ein, eine Stadtführung kulinarischer Art, „Energy-Balls machen wir da extra, die haben wir nicht im täglichen Verkauf.“ Dazu fällt Marcel ein, dass es in der Hanfbar ja auch knusprige Schoko-Hanf-Riegel und verschiedene Tees zu kaufen gibt. Die Nähe der neuen Location zum Riptide freut Robert, „ich gehe da öfter mal essen, aber Platten sind nicht so meins“. Die vegane Currywurst ist sein Favorit. Marcel erinnert sich: „Im Protohaus hatten wir eine Veranstaltung zusammen, es ging um Start-Ups.“ Im Riptide selbst war er indes länger nicht, aufgrund seiner Auswanderung, aber wenn, dann gönnt er sich auch Kaffee, Kuchen und mehr. „Es ist cool, dass sie so viel Veganes am Start haben“, ergänzt Robert, „das gibt’s nicht so oft in Braunschweig.“ Die beiden haben Feierabend, den will ich ihnen gönnen und weiter ins Riptide. „Für uns ist es wichtig, Aufklärung zu betreiben und über die Pflanze zu erzählen“, sagt Marcel abschließend. „Es kommen auch viele Leute her deshalb.“ Ich verabschiede mich von ihm und Robert und verlasse den gemütlichen Raum in den dunkel-trüb-feuchten Abend. Aber im Riptide ist es ja auch ausnehmend gemütlich, ein so wunderbar warmer Kontrast zum grauen November. Anthea flitzt mit Tabletts nach oben, Dominik bedient die Theke. „Einlass ist um halb acht, du kannst dich aber oben schon hinsetzen“, sagt Dominik, aber ich möchte bis dahin unten bleiben, am Fenster sitzen, noch etwas essen. Die Bestellung übernimmt Anthea, „ich komme dir hinterher“, sagt sie und kommt mir hinterher. Den neuen Falafel-Burger hätte ich gern wieder, mit Mozzarella, Pommes und Mayo und einem Wolters dazu. Das Bier trifft gerade bei mir ein, da kommen Christian und Peter zur Tür herein, wie verabredet. Sie bringen Plakate mit für die Geburtstagsfeier ihrer Band Krügerglantzquartett, die wir mit Rille Elf begleiten dürfen, am 14. Dezember bei Thomas im Kult-Theater im Schimmelhof. „Das Beste aus 10 Jahren“ steht auf dem quadratischen Plakat, und „Alles gut“ und „3 Shows in einer“. Während Christian sich an der Theke ein Wolters organisiert, erzählt Peter, dass er Marcel Pollex „ewig lang her im LOT“ veranstaltete, „ich habe da mit einem Kumpel eine Veranstaltungsreihe gemacht, ‚Freistil‘, einmal im Monat, da hatte Marcel einen Slot – das ist 20 Jahre her“. Zur Geburtstagsshow des Krügerglantzquartetts wird es eine Schallplatte geben, kündigt Christian an, mit aus Kapazitätsgründen weniger Songs, als es live zu hören geben wird, die man dann aber als Bonus im Download erhalten soll. Peter wirft ein: „Die Show dauert ungefähr viereinhalb Stunden“, wir mit Rille Elf hätten zwischendurch immer mal wieder Zeit zum Auflegen, „das wird ein Community-Ding.“ Christian winkt ab: „Glaub ihm heute nicht alles!“ Da Christian sein Wolters bereits vor sich hat, bestellt Peter bei Anthea einen Weißwein. Und erzählt, dass Roberta den Flyer für die Show bastelt und somit das Rille-Elf-Logo von ihm bekommt, das ich ihm gerade geschickt habe. Das ist die Quasi-Gegenleistung dazu, dass Peter ihren Podcast „Der kreative Flow“ produziert, „von der ersten Folge an“, ihn anmoderiert und für ihn Jingles erstellt, und „dafür gibt’s Flyer“. Christian ergänzt: „Und Fotos, die sie auch macht.“ Der Titel „Alles gut“ sei mit einer Absicht gewählt, weil beide den Spruch nicht mögen: „Keine Ahnung, wann das sich so entwickelte“, winkt Peter ab. Christian beobachtet: „Je schlimmer alles wird, desto mehr wird er genutzt.“ Aber da es sich bei der LP ja um ein Best-Of-Album handelt, „wir haben uns totgelacht, nach drei Alben, als unbekannte Band“, sagt Peter, überlegte das Duo, welchen Titel das Album tragen sollte, und verfiel eben auf das verhasste „Alles gut“. „Wir haben Tränen gelacht“, erzählt Christian, „genau so, wie als wir uns die weißen Anzüge gekauft haben.“ Peter lacht: „Bei C&A!“ Ich hab’s mir auch angewöhnt, muss ich gestehen, denn „Alles gut“, das sagt Siggi immer im MokkaBär, und „natürlich“, und das ist beim MokkaBär-Stammtisch in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeflossen. Das Riptide füllt sich, der Zeitpunkt des Einlasses nähert sich, unsere Runde erweitert sich. Da Christian und Peter keine Tickets mehr bekommen haben, verlasse ich die beiden nun und schließe mich Karsten an. Den Einlass übernimmt Chris persönlich, „aber ich habe den Stempel vergessen“, lacht er. Karsten nimmt einen Platz in der Nähe der Bühne ein, ich setze mich zu ihm. Wir unterhalten uns über die künstlerisch-performative Entwicklung, die wir bei Marcel über die Jahre beobachteten, und stellen erfreut fest, dass es in Braunschweig eine ganze Menge Literaten gibt, die zudem auch noch auf eine jeweils originäre Art ihre Texte vortragen. Da spricht uns Thorsten vom Nachbarsitzpatz an: „Ihr habt gerade über Till Burgwächter gesprochen“, beginnt er, und erzählt, dass jener zusammen mit Hardy Crueger am 8. Dezember in der Kirche in Geitelde aus der „Braunschweig’schen Weihnacht“ liest. Die „Braunschweig’schen Verbrechen“, ihr zweites gemeinsames Buch, stellten die beiden Autoren bereits im Vorjahr dort vor, jetzt soll es adventlich werden. Doch fehlt dem Organisator für die Flyer-Erstellung noch ein Buchcover in guter Auflösung, und wie es die kuriose Erbsenhaftigkeit dieser Stadt eben will, sitzt mit Karsten ja der Gestalter dieses Covers zufällig genau neben ihm. Sie tauschen ihre Kontaktdaten aus. So einfach kann es sein. Marcel übernimmt nun das Mikrofon und das Zepter. „Ich freue mich, dass ich dieses Jahr abschließen kann im Riptide“, beginnt er, zückt sein imaginäres Handy, blickt darauf und sagt: „Kommt gerade rein: Robert Habeck ist aus der Regierung ausgetreten.“ Nach der Nachricht vom Vorabend, dass Bundeskanzler Olaf Scholz Finanzminister Christian Lindner aus dem Kabinett geworfen hat, sitzt der Schrecken tief – doch Marcel winkt ab, das war sein erster Witz heute. Für so kleine Sticheleien ist er ja bekannt, nah an der Realität, leicht überdreht, aber nur so viel, dass es immer noch wahrhaftig sein könnte, was er da beobachtet zu haben vorgibt. Wie seine „Marktimpressionen“, die er auf dem Wochenmarkt am Prinzenpark aufschnappt und pointiert überspitzt. Gast René ist von Marcel aufgefordert, diese Rubrik zu erläutern, und er stellt fest, dass er Marcel nicht alles glauben kann, was er erzählt. Sollte er auch nicht, übertreiben macht aber anschaulich, Marcel gibt also Tendenzen wieder, die sich sehr wohl ausmachen lassen. „Ganz frisch reingekommen“, sagt Marcel wieder, „Christian Lindner moderiert jetzt ‚Wetten dass..?‘“. Das passt zu der nächsten Geschichte, die von TV-Moderator Josef Kippenhahn, der als originelles TV-Experiment ein Interview mit sich selbst ausstrahlt, in dessen Verlauf die Gast- und die Moderator-Inkarnation dieser Figur einander tiefenpsychologische Beine stellen. Viele von Marcels vordergründig humoristischen Texten haben eine hintergründige, gar abgründige Ebene, auf der einem das Lachen vergeht. Es ist, als erlebte man eine Art Häutung des Dichters, der den alten Schabernack ablegt und einen neuen Schabernack zum Vorschein kommen lässt, der daraus besteht, dass er die Erwartungen der Zuschauenden philosophisch, zynisch, antikapitalistisch und todernst unterwandert. Nach der Pause blickt Marcel abermals auf seine Handfläche: „Karl Lauterbach hat die Regierung verlassen und macht um die Ecke einen Headshop auf.“ Mit weiteren Dialogen, die er mit teils sich überschlagender Stimme performt, spiegelt er die Untiefen des Seins und würgt den Gästen das Lachen ab, nicht selten ist man geplättet von der Wucht seiner Inhalte. Bald ist die Zeit jedoch um: „Das war wieder ganz toll heute im Riptide“, sagt er, und betont: „Und das war kein Witz!“Zu meiner anderen Seite sitzt Jens, den ich im September in der EinraumGalerie bei der Geburtstagsfeier von Christian und der Ausstellung von Peter kennen lernte, daher nehme ich an, dass ich ihn am 14. Dezember beim Krügerglantzquartett wiedersehen werde, doch er verneint: „Da habe ich einen Auftritt mit Silent Radio in Bad Harzburg.“ Dieser Tag hat einiges zu bieten, Pott drückt mir einen Flyer in die Hand, für den Nachtmarkt in seinem Tattoo-Studio Schmierfink & Robird. Er lacht: „Christian und ich haben die Wette laufen: Wer weniger Besucher hat, kommt zum anderen – es kann also sein, dass ihr bei uns auflegt!“Strippenzieher Chris wickelt ein Kabel auf uns setzt sich noch kurz zu mir. Ich erzähle ihm von der Hanfbar, und er berichtet, dass das Riptide sogar mal eine Kooperation mit den Gründern hatte, noch im Handelsweg, da klebte ein blauer Wassertropfen an der Tür, der darauf hinwies, dass sich das Café an der Aktion Refill beteiligte, die Kunden kostenloses Wasser zusicherte. Das Café leert sich, Chris und ich schlendern nach unten, verabschieden uns von Anthea und Dominik, treffen draußen noch auf Sarah und Pott und gehen dann jeder seiner Wege. Dieses Mal hat Marcel gar nix versprochen von nochmal so einem schönen Abend im Riptide. Muss er auch nicht, wir dürfen davon ausgehen, dass er wiederkommt und mehr Licht ins Dunkel bringt.

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