#207 O67 – versenkt!

Donnerstag, 12. Dezember 2024

Dies ist der nun zehnte Tag mit Nieselregen in Folge, das ideale Wetter, um auf dem Weihnachtsmarkt heißen Met und Schwedenteller oder Mumme-Glühwein und Braunkohl mit Bregenwurst zu sich zu nehmen. Immerhin schüttet es mal nicht wie aus Badewannen, und außerdem glitzern die schmuckvollen Lichter bei Sprühwetter noch viel mehr. Aber nee, heute ist das Riptide das Ziel, zum einen sowieso, zum anderen, weil sich die Donnerstagsrunde aus dem MokkaBär dort anteilig zusammenfindet, weil der MokkaBär heute geschlossen bleibt. Und bald sogar für immer, Ollo und Ilona öffnen die „Pfo(r)ten“ des Bären nächste Woche Donnerstag zum letzten Mal, dann beenden sie das Projekt mit dem Café am Frankfurter Platz nach mehr als sieben Jahren. Für mich ist es wie eine Amputation um ein Wohnzimmer, einmal, weil es so anheimelnd eingerichtet ist, und dann, weil ich – wie im Riptide, nur bei mir um die Ecke – unverabredet hingehen und sicher sein kann, Leute zu treffen. Das war von Anfang an so: Ich komme hin, kenne keinen, gehe, kenne alle. Diese dort entstandene Gemeinschaft wollen wir aber beibehalten und verlagern sie heute schon mal ins Riptide, von einem Wohnzimmer ins andere also.

Ein weiteres Ende gibt es zu beklagen: 2024 schickt sich an, aufzuhören. Im Dezember gibt’s von mir daher im Riptide immer eine Frage an alle, mit denen ich spreche, und für diese Mal lautet sie: Was hast du in diesem Jahr zum letzten Mal gemacht?

Zuvor niesele ich beim Änderungsatelier Yilmaz in der Karrenführerstraße 1-3 herein, als für das Riptide neuen Nachbarn im Magniviertel. Die Nähmaschinen rattern, Inhaber Özcan und zwei Mitarbeiter sitzen in einer Reihe und bearbeiten Kleidungsstücke, umringt von wändeweise weiterer Bekleidung, Stoffen, Kurzwaren. Einen Platz bietet der 60 Quadratmeter große Raum auf der rechten Seite für Wartende, antik anmutende, hübsch gepolsterte Stühle und ein Tisch neben Umkleidekabinen erlauben einen gemütlichen Aufenthalt. Özcan selbst ist beileibe nicht neu in der Gegend: „Ich bin seit 23 Jahren in dieser Ecke“, sagt er, von seiner Nähmaschine aufblickend. „Sieben Jahre lang war ich im Kaufhof angestellt, zehn Jahre lang habe ich mich in den Schlossarkaden selbständig gemacht, jetzt bin ich seit sieben Jahren hier.“

Für ihn ist das Magniviertel ein freundlicher Standort: „Die Leute, die herkommen, sind nett, wir sind zufrieden“, sagt Özcan. Kunden kaufen beispielweise wenige Meter weiter bei Men’s Gala oder Rooks & Rocks Anzüge, „wenn es nicht passt, bring es einfach her“, empfiehlt Özcan, „oder wenn deine Frau ihr Kleid ändern will, kürzen, enger, weiter, nur reparieren“. Anlässe für Aufträge bei ihm seien Hochzeiten, Beerdigungen oder die Arbeit. Manche Kunden haben es eilig und würden die Wartezeit bis zur Fertigstellung gern in der Umgebung verbringen, und denen empfiehlt Özan immer die Cafés im Magniviertel, „zum Kaffeetrinken oder um etwas zu essen“, und er stellte über die Jahre erfreut fest: „Hier kommen nur vernünftige Leute.“

Indes war Özcan selbst noch nicht im Riptide. „Ich möchte da gern hingehen, aber weißte, selbständig, keine Zeit und ich habe vier Kinder“, sagt er und zuckt bedauernd mit den Schultern. Auch weiß er daher nicht, ob er die Betreiber der gastronomischen Einrichtungen aus seiner Nachbarschaft vielleicht schon mal als Kunden hatte: „Von den Textilgeschäften die Leute kenne ich.“

Heute ist Özcan der erste, der meine Frage zu hören bekommt. Er antwortet pragmatisch: „Wir haben noch ein paar Wochen“, sagt er, grinst und widmet sich wieder seiner Nähmaschine. Also lasse ich die drei in Ruhe weiterrattern und verabschiede mich zurück in den Niesel.

Das Riptide empfängt mich warm, in Temperatur und Beleuchtung. Und voll ist es! Im unteren Raum sehe ich die MokkaBären nicht, also steige ich die Treppe ins Obergeschoss hinauf, und ja, gleich am Tisch links sitzen sie, der Reihe nach: Uwe, Ilona, Olli und Henning. Ilona erzählt gerade von den sieben Jahren MokkaBär, wie lang sie Ollo schon kennt und von einigen Erlebnissen in der Zeit. Da tritt Anthea an unseren Tisch und nimmt neue Bestellungen auf, die vier sitzen nämlich bereits eine Runde lang hier, als ich mich dazusetze. Uwe nimmt einen Cappuccino, Ilona hat ihr Glas noch nicht zur Neige gebracht, Olli bleibt beim Wolters und Hening möchte einen Ingwertee probieren. Für mich darf’s gern wie zuletzt immer sein: Falafel-Burger mit Pommes und Mayo und dazu ein Wolters.

Kürzlich, als ich mit Günther und unzähligen anderen Freunden und Bekannten das Konzert von Grass Harp im Wolfsburger Planetarium sah, sprang Olli ein, um Uwe im Kufa-Haus beim Auflegen zu begleiten. Nach dem Geburtstag von Hardy, den Olli und ich beschallten, war dies erst sein zweites Mal als DJ überhaupt, und davon berichten die beiden DJ-Protagonisten nun. Da Olli außerdem weiß, dass ich mich etwas für Musik aus Dänemark interessiere, fragt er mich, ob ich seine neueste Facebook-Entdeckung PowerSolo kenne, und muss leider verneinen. Er zeigt mir deren Video zu „Boom Babba Do Ba Dabba“ kurz auf dem Smartphone; in dem Clip lautmalt ein nicht auf Hochglanz gestylter Kim Jeppesen den genannten Text gitarrespielend in die Kamera, während im Hintergrund ein zweiter Mann nach Bob-Dylan-Art jene Wörter von Papptafeln abblättern lässt. „Das ist schon mal ein sehr gutes Lied von denen“, findet Olli. Muss ich mal recherchieren, danke für den Tipp!

Zwischendurch richte ich meine Jahresabschlussfrage an die vier. „Ich hatte heute meinen letzten Arbeitstag bei der Firma Volkswagen“, schießt Henning spontan los. „Morgen muss ich nochmal hin, Frühstück ausgeben und mein Handy abgeben.“ Das hatte er nämlich heute vergessen. Wie es bei ihm nun weitergeht, weiß er noch nicht, aber er grinst: „Ich habe mich schriftlich verpflichtet, 36 Monate nicht für die zu arbeiten, dann darf ich mich wieder bewerben.“

Ilona gibt sich zuversichtlich: „Ich war dieses Jahr definitiv zum letzten Mal schwer krank“, sagt sie. „Das war ich vorher auch noch nie, das war zum ersten und zum letzten Mal.“ Die Einwände, dass das sehr negativ klinge, wendet sie ab. „Ich finde das sehr positiv, wenn man das so sagt.“

Die Antwort von Uwe teile ich: „Ich werde nächste Woche zum letzten Mal im MokkaBär gewesen sein.“ Ilona ergänzt: „Und ich werde das letzte Mal für den MokkaBär Glühwein gemacht haben.“

Derweil zuckt Olli mit den Schultern. „Ich habe nix beendet, es geht weiter“, sagt er und grinst. „Ich treibe weiterhin keinen Sport“, setzt er fort und hält kurz inne: „Das möchte ich schon ändern, dieses Jahr noch.“ Überzeugt betont er nun: „Ich höre auf damit, keinen Sport zu machen.“

Für unsere Stammrundenplanung wollen wir auch diejenigen einbinden, die kein Whatsapp haben, wie Stefan, den ich auf dem Hinweg traf, vor dem Greek Haus, er auf dem Weg ins Kino, ich hierher. Immerhin ist er informiert, dass nächste Woche der Abschied naht, auch durch Ilona, erzählt sie. „Es gibt Kuchen“, kündigt sie an, und berichtet, dass Stefan wichtig war, zu wissen: „Käsekuchen mit Tränchen?“ Sie nickt: „Ja, und Nussecken, so lang der Vorrat reicht.“

Zudem berichtet sie, dass sie jüngst an Blattsalat einen Narren gefressen hat, und dass auch Avocados aufgrund ihres Fettgehalts gut für sie seien, doch Olli findet, dass Avocados wegen des hohen Wasserverbrauchs fürs Klima eher schädlich sind. Ein Stück Ochse sei sicherlich schädlicher, mutmaße ich, doch Olli schüttelt grinsend den Kopf: „Fleisch ist besser als Avocado.“ Uwe und er klatschen sich über den Tisch hinweg lachend ab, Olli schwärmt noch von den großen Portionen im Plaka-Grill. Dazu fällt mir die Krabbenkuppel ein, da war das auch so, dass das Gyros immer vom eh schon großen Teller herunterfiel. Uwe nickt: „Auch im Bier- und Wurst-Kontor – wenn du da eine halbe Stunde gegessen hast, siehst du dein Gegenüber wieder.“ Dazu fällt Uwe noch ein Abschluss ein: „Ich war dieses Jahr das letzte Mal im Kufa mittagessen!“ Olli nickt: „Oh ja!“ Aber das zählt nicht, den Mittagstisch greift das Kufa-Haus ja wieder auf, gottlob.

Während Anthea unseren Tisch abräumt und die neue Bestellung aufnimmt, bekommt sie meine Frage gestellt, und auch bei ihr kommt die Antwort sofort: „Ich habe das letzte Mal geraucht – ich habe aufgehört vor drei Wochen“, strahlt sie. „Es ist ein bisschen schwer, in der Gastronomie aufzuhören, aber es läuft“, sagt sie zuversichtlich und bekommt von der Runde am Tisch zustimmende Anerkennung.

Und dann verändert sich alles. Die Stimme von Dominik erschallt über Lautsprecher, sämtliche Tische sind von aufgeregten Gästen belagert, kleine quadratische Zettel machen die Runde. „Hört man mich auch oben?“, hören wir Dominik von unten. Er erklärt, dass dies der allererste Bingo-Abend im Riptide sei, er veranstalte solche Aktionen „sonst immer in der Klaue“, nun er sei „aufgeregt, weil’s über zwei Etagen geht“. Er erläutert die Regeln, dass es nämlich mehrere Runden gibt mit jeweils einem Gewinn. Der erste besteht aus einem exklusiven Riptide-Turnbeutel, den es ansonsten nicht zu kaufen gibt. O76, legt Dominik fest, ist die Schnapszahl, bei der das Riptide also eine Runde ausgibt, sobald sie gezogen wird. Für uns, die wir ohne Bingo-Zettel sind, erscheinen die Losnummern etwas kryptisch, G59, B12, G53, B3. „Versenkt“, sagt Olli. „Bingo“, ruft jemand hinter uns, läuft mit dem Zettel nach unten und wir hören, wie Dominik den Gewinn bestätigt. Der Jubel auf beiden Etagen ist riesig. Nach einer kurzen Pause startet die zweite Runde gleich mit O67, was den Jubel kaum leiser ausfallen lässt. Anthea stellt mir einen Mexikaner an die Seite und zwinkert: „Ich hab einen zu viel gemacht.“

In der nächsten Pause begebe ich mich nach unten, ich möchte mir das jetzt alles genauer angucken. An einem großen Tisch sitzt Dennis in einer großen Runde Leute, die mir einen Blick auf die Bingo-Karten gestatten. Jetzt verstehe ich das mit den Buchstaben und Zahlen: Fünf mal fünf Felder sind mit willkürlichen Zahlen ausgestattet, jede Kolumne hat zusätzlich einen der Buchstaben B, I, N, G, und O drüberstehen, und nur, wenn die gezogene Zahl auch in der Reihe mit dem entsprechenden Buchstaben auftaucht, ist sie gültig.

An diesem Tisch lasse ich ebenfalls meine Jahresabschlussfrage stehen, und Katharina beantwortet sie als erste: „Ich habe dieses Jahr zum letzten Mal meinen 61. Geburtstag gefeiert.“ Warum eigentlich, man könnte das ja öfter machen, wende ich ein, doch sie schüttelt den Kopf und betont, dass sie ungern zurückblickt. „Es gibt nicht viel, was ich zum lettzen Mal gemacht habe“, sagt sie, „ich habe noch viel vor mir.“ Dennis stellt die Antwort quasi auf den Kopf, weil ihm so schnell keine gültige einfällt: „Ich spiele nicht zum letzten Mal Bingo“, lacht er und erbittet sich etwas Bedenkzeit. Die bekommt er natürlich.

Derweil wende ich mich Chris hinter der Theke zu. „Ich werde nie wieder ins Jahr 2024 Silvester reinfeiern“, sagt er und setzt nach: „Ich werde nie wieder einen Vertrag bei der AOK unterschreiben.“ Auf die Geschichte dazu bin ich neugierig, aber es ist klar, dass der wie immer gutaussehende Riptide-Chef momentan etwas eingebunden ist. Einen Sticker für das Klebealbum „Fritz Bauer Ultras“ möchte er mir überreichen, doch da ist er zu spät, den habe ich schon, inklusive Stickeralbum.

Vor einer Woche traf ich mich nämlich mit Hardy im Riptide und sah einen Stapel dieser Stickeralben vor Dennis an der Theke liegen. Meine Frage, was es damit auf sich habe, beantwortete Anthea: Es handele sich um eine Inszenierung am Staatstheater, die über das Theater hinausgehen soll. Dafür gibt es das Sammelheft und an verschiedenen Orten in der Stadt bekommt man einen Sticker dafür. „Das soll die Kommunikation fördern“, erklärte sie, und wies darauf hin, dass man im Heft an der Silhouette erkennen muss, wohin genau der jeweilige Sticker gehört, nicht an einer Markierung via Ziffern, wie man es gewohnt ist. „Der erste Sticker ist gleich mit drin, den man im Theater bekommen würde, und wer alle voll hat, kann das Heft beim Theater abgeben und etwas gewinnen“, fuhr sie fort. Also erwarb ich ein solches Heft mit den zwei Stickern und stöberte darin herum. Initiator, so erfuhr ich, ist Christian Weiß mit seiner Produktionsfirma xweiss für „Immersives politisches Theater“. Im Heft erkenne ich außerdem, dass viele der Institutionen, bei denen man Sticker bekommen kann, ausschließlich zu Zeiten geöffnet haben, zu denen ich berufstätig bin, ich also ohne Urlaub zu nehmen keine Chnace habe, das Büchlein vollzubekommen. Aber nicht schlimm, ich lerne etwas über den Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und dessen juristische Arbeit an den Auschwitzprozessen in den Sechzigern.

Ohne Sticker nun also kehre ich zurück an meinen Sitzplatz. Henning verließ uns bereits zugunsten einer Doppelkopf-Runde – also nicht für den Chorgesang, der ansonsten donnerstags in seinem Kalender steht –, und Ilona trat ihren Heimweg an. Nach der nächsten Bingo-Etappe heben wir ebenfalls unsere Runde auf und begeben uns ins Erdgeschoss. An Dennis‘ Tisch frage ich nach frischen Antworten, und Annika übernimmt eine für mich: „Du hast zum letzten Mal nicht beim Bingo mitgemacht!“ Sie lacht und schwärmt: „Die Stimmung ist gut, man feiert hier.“

Auch mit Bedenkzeit bleibt Dennis unschlüssig. Er hat zwar eine Idee im Kopf, aber: „Das ist zu privat, die Frage beantworte ich nur unter vier Augen.“ Damit ist er nicht allein, seinem Sitznachbarn geht es ebenso, und so soll es gern bleiben.

Vor den Schallplatten sitzt Dominik an einem Stuhl, das ausgeschaltete Mikrofon in der Hand und die Kugeltrommel mit dem Losbrett vor sich auf dem Tisch. „Bingo habe ich in Hamburg auf einem Punkrock-Festival gespielt und es in die Klaue gebracht“, erklärt er mir. „Chris hat gefragt, ob wir das auch hier machen können – es kommt gut an.“ Dem Jubel und der Stimmung nach zu urteilen, scheint das zu stimmen, und mindestens von Annika weiß ich ja, dass sie das auch so sieht.

Zuletzt bekommt auch Dominik meine Frage gestellt. „Mein Opa war für mich der Größte früher, der hat dafür gesorgt, dass ich so ein großer Fußballfan geworden bin“, holt er aus. „Meine Oma hat mir ein altes Fußball-Mannschaftsfoto geschenkt von ihm, in Schwarzweiß – ich habe zum letzten Mal so eine Erinnerung gehabt.“ Sein Job verlagt nun, dass er das Mikrofon wieder einschaltet und die Gäste entertaint.

Im Nieselregen warten Uwe und Olli mit ihren Fahrrädern auf mich. Wir sehen uns alle am Samstag wieder, wenn das Krügerglantzquartett im Kult-Theater seinen zehnten Geburtstag feiert und wir mit Rille Elf dazu den Rahmen gestalten dürfen. Platten habe ich letztes Mal schon mitgenommen, von Teho Teardo & Blixa Bargeld und von U2, dieses Mal gehe ich also mit leeren Händen nach Hause. Olli begleitet mich, sein Fahrrad schiebend, und wir singen zusammen „Boom Babba Do Ba Dabba“.

Matthias Bosenick

www.krautnick.de
Fakebook

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