#88 Lachkönige

Donnerstag, 26. Februar 2015

Wie nennt man das, wenn zu einem Zeitpunkt, der eigentlich dem tiefsten Winter entspricht, die Knospen sprießen, Schneeglöckchen für das einzige Bisschen Schneeartigkeit sorgen, bunte Blumen den Boden mit Farbtupfern bedecken – Vielzufrühling? Und wie ist überhaupt die Mehrzahl von Krokus, frage ich, als ich im Handelsweg mit Serge und Niclas das eigentümliche Jahreszeitenphänomen diskutiere, und zwar nicht in Serges Laden, sondern davor, weil wir die Sonnenstrahlen genießen, obgleich sie es dem Sonnenstand geschuldet noch nicht in das Achteck des Handelswegs schaffen, aber doch für ausreichend Wärme sorgen, so sehr, dass heute allerorts Braunschweiger aus ihren Winterkellern krabbeln und die Straßen bewuseln, noch mit den üblichen verkniffenen Wintergesichtern zwar, aber immerhin doch an der Luft – ist es, dem Latein entsprechend, „Kroki“? „Kroküsse“, sagt Serge, mit einem schelmisch-verschmitzten Lächeln, spitzbübisch fast, und Niclas schlägt trocken vor: „Krokanten.“

Marco schleppt gemächlich und entspannt Getränkekisten an uns vorbei und zwischen Lager und Café Riptide hin und her. Auch vor Comiculture versammeln sich Jugendliche. Eindeutig, da schwingt schon der Frühling mit. Jetzt müsste nur auch noch das Geschäft gegenüber von Serges Antiquariat wieder aufblühen: Das frühere Vabel-Schmucklädchen steht leer.

Im Café ist es für Chris indes leider weniger entspannend: Er hat alle Hände voll zu tun, eigentlich hat er sogar mehr zu tun, als er Hände hat. Am Abend ist das Café für eine private Veranstaltung gebucht, bis dahin muss er Klar Schiff machen. So befasst er sich damit, einerseits die angelieferten LP-Pakete auszupacken, die Platten mit Preisschildern zu etikettieren und sie in die entsprechenden Fächer zu sortieren, und andererseits bereitet er in der Küche die bestellten Speisen zu. Gottlob ist er nicht alleine, Paul übernimmt Bestellungen und Getränke. Paul absolviert sein Schulpraktikum im Riptide, „das ist der vorletzte Tag von drei Wochen“, erklärt er. Ein Déjà-vu für mich, dasselbe sagte mir seine Vorgängerin Vanessa vor fast einem Monat. Paul, gebürtiger Braunschweiger, geht auf die IGS in Querum. „Hier ist ein anderer Ablauf als in der Schule“, sagt Paul. „Auch, weil ich erst ab 12 Uhr anfangen muss – ich kann jeden Tag ausschlafen.“ Auch das war einer der Vorzüge, von denen Vanessa sprach. Verständlich. „Hier hat man nicht so feste Formen wie in der Schule“, sagt Paul zu mir und Niclas, der sich nun zu mir an die Theke stellt. In der Schule fange man mit einem vorgegebenen Fach an und arbeite den dann den Stundenplan ab: „Hier macht man das, was gerade ansteht.“ Niclas nickt: „Zum Beispiel einen grünen Tee servieren.“ Paul grinst und dreht sich zu Tassen und Beuteln um: „Ich mach mal einen grünen Tee.“

Mit dem Musikverkauf sind Praktikanten im Riptide nicht betraut, erläutert Paul, während er Niclas eine Tasse mit Tee und mir eine mit Milchkaffee auf den Tresen stellt: „Ich hab aber geguckt, ob die Platten in den Fächern richtig nach Alphabet sortiert sind.“ Auf das Riptide als Praktikumsplatz kam er, weil er hier gern als Gast herkommt. Vielleicht liegt es daran, dass ihn im Rahmen des Praktikums keine unerwarteten Ereignisse ereilten. „Ich habe versucht, mich grundsätzlich überraschen zu lassen, und keine Erwartungen gestellt“, sagt Paul. Er denkt kurz nach und sagt dann: „Nicht erwartet habe ich, dass hier so viele Mitarbeiter sind, neun oder so, erstaunlich.“ Im Laufe seines Praktikums hat er alle kennen gelernt. Was wird er vermissen, wenn er am Montag in den Schulalltag zurückkehrt? Paul grinst: „Das Ausschlafen auf jeden Fall.“ Jau, genau wie Vanessa.

Der nächste große Termin steht für Chris gleich morgen an: Im Rahmen der Reihe „Sound On Screen“ zeigt das Universum-Kino den Film „Monks – The Transatlantic Feedback“ mit anschließender 60er-Jahre-Party im Riptide. Chris beginnt sofort zu schwärmen: „Die Monks sind eine 60er-Jahre-Band, die gecastet war, im Gegensatz zu den Beatles.“ Die Musiker hatten sich alle eine Mönchstonsur rasiert. „Die Musik war räudig“, sagt Chris. Aber: „Man hat die Band vergessen.“ Bis vor zehn Jahren, als ausgerechnet Henry Rollins sie ins öffentliche Bewusstsein zurückholte. „Er hat sie wieder ausgegraben, und dann ist der Film entstanden“, sagt Chris. Das erste Mal seit Langem laufe bei „Sound On Screen“ keine Premiere, sondern ein älterer Film. Der letzte, „Whiplash“, erhielt sogar vier Oscars, berichtet Chris. Beim Titel „Whiplash“ denke ich eher an den Song von Metallica, als sie noch gut waren, als an den von Hank Levy, nach dem der Film benannt ist. Der handelt von einem ambitionierten Jungen, der der beste Jazz-Schlagzeuger der Welt werden will und sich dafür den Wutausbrüchen eines cholerischen Ensembleleiters aussetzt. Der Trailer wirkte für mich wie eine Mischung aus „Rocky“ und Kriegsfilm. Chris freut sich auf den Monks-Film: „Der ist der Hammer, weil die Typen so geil sind.“

Aus dem nächsten LP-Karton zieht Chris derweil unter anderem „High Hopes“ von Bruce Springsteen heraus. „Das ist ein hoffnungsvoller Nachwuchssänger, aus dem könnte was werden“, kommentiert er mit Kennerblick. Darunter liegt „Shadows In The Night“, Bob Dylans neues Album, sein Tribut an Frank Sinatra. „Oder der“, sagt Chris und zitiert den alten „Switch“-Sketch, „ein türkischer Nachwuchssänger, Bob Dülan.“

Das erinnert mich an die Geschichte, die mir Angela letzte Woche beim Konzert von Seducer, Hoax, TV Smith und den UK Subs in Groß Oesingen erzählte, als Charlie Harper von den UK Subs gerade seine Mundharmonika zückte. Ihr Freund sei mal Instrumentenverkäufer gewesen, und immer, wenn er einem Kunden eine Mundharmonika aushändigte, tat er dies mit dem Reim: „Mit ein bisschen gutem Willen spielst du besser als Bob Dylan.“ Und überhaupt, was war das für ein geiles Konzert in meiner alten Heimat. Hoax, die Groß Oesinger Punkband, war nach zehn Jahren Pause mal wieder live zu sehen, und das wie früher im Gasthaus Zur Linde, auf dem Saal. Weiß der Geier, wie sie das bewerkstelligten, aber sie buchten die englischen Punklegenden UK Subs und TV Smith von den Adverts für den Gig, dazu die Metaller Seducer aus Schweimke. An einem Dienstagabend in der Provinz fanden sich erstaunliche 500 Leute in der scheunenartigen Halle und feierten, pogten, moshten, was das Zeug hielt, und das Zeug hielt viel. Zu meiner Überraschung traf ich viele Braunschweiger dort, gar nicht so viele Leute aus dem Ort selbst. Nun je. Mal ganz abgesehen von den UK-Punkhelden, zu denen ich davor eigentlich gar keinen Bezug hatte, ist es für mich Ehrensache, hinzugehen, wenn Hoax rufen. Deren drei LPs gehörten zum Soundtrack meiner Heideadoleszenz, und obwohl ich sie lange nicht mehr hörte, kamen mir die Songtexte wie selbstverständlich von den Lippen. Dies ist eine erfreuliche Zeit, in der Lokalpunkhelden wieder zusammenfinden: Erst Halle 54 in Wolfsburg, dann Hoax in Groß Oesingen, und jetzt auch die Tanzenden Kadaver hier in Braunschweig. Deren Live-Comback steht indes noch aus – es gibt also etwas, auf das man sich dieses Jahr schon mal freuen kann.

„Tag, Herr Frank!“ – „Tag, Herr Rank!“ Chris und Dennis begrüßen sich nach einer alten Tradition, die sie einst in einer gemeinsamen Sendung auf Radio Okerwelle etablierten. Dennis bestellt nach dem Handschlag eine Fritz-Kola und einen Burger mit tierfreiem Bonanza-Bratling. Die Kola öffnet Chris ihm gleich. Mit dem Getränk in der Hand schlendert Dennis in Richtung Sitzplatz am Fenster. Während Chris in die Küche geht, sagt er: „Den Burger bring ich dir – den mach ich dir heut mal vegan.“ Dennis nickt: „Ja, heute mal ohne Fleisch.“

Neben dem Kücheneingang wirbt die Schiefertafel in dieser Woche für die Erbsen-Dill-Cremesuppe. Das Braunschweiger Trio You & Me, das mir noch als Duo von den Wolfsburger Shows bekannt ist, die Sibylle Schreiber im Café Extrem veranstaltete, bietet seine neue CD „Delightful Terror“ auf dem Tisch feil, auf dem auch der Kasten mit Fehmi Baumbachs Miniprints steht. Im Aufsteller für limitierte Editionen und neue DVDs auf der Theke steckt neuerdings auch die DVD von „20,000 Days On Earth“, dem hervorragenden Film mit Nick Cave, der auch bei „Sound On Screen“ lief.

À propos, der „Whiplash“-Film bei „Sound On Screen“ war der Grund, weshalb Chris leider nicht ins Nexus gehen konnte, zum Auftakt der Zehn-Jahres-Feier – parallel zum Film referierte dort nämlich Apfel, einer der Ersten aus dem Nexus-Team, umfassend über die Hausbesetzerszene allgemein und in Braunschweig speziell sowie die ersten Schritte hin zum Kulturzentrum Nexus, das aus dieser Szene entstanden war. „Das war ein wichtiger Abend“, bedauert Chris. Und ein großartiger dazu: Weit über drei Stunden lang gab Apfel seine hochspannenden Insiderkenntnisse preis, unterlegt mit Fotos und Filmen. Dafür war ich leider nicht bei den anderen wichtigen Festveranstaltungen, darunter Chris‘ wiederbelebter Pleasure-Park-Party, die mit dem Nexus das Zehnjährige beging. „Das war eine Reise“, erzählt Chris mit einem wohligen Seufzer. Er kredenzte dem Publikum nämlich ein Best-Of: „Alles, was die Leute mitgrölen können und was woanders nicht läuft“, sagt er. „Das habe ich beim Plattenpacken gemerkt: Oh, ich muss andere Sachen mitnehmen als sonst.“

Auch Chris ist einer der alten Nexus-Hasen, wie er Dennis, der mit dem Mittagessen fertig ist und der eigentlich zahlen möchte, und mir berichtet. Abgesehen von den Renovierungsarbeiten, an denen sich Chris handfest beteiligte, war er auch Mitglied im Namenskomitee, als einer von dreien. Und er war auch dabei, als die ominöse Newsletter-Signatur „Herr Nexus“ entstand: Als nämlich ein Steinelieferant mit Blick auf seinen Lieferschein die auf der Nexus-Treppe pausierenden Arbeiter fragte, wer von ihnen denn der Herr Nexus sei.

Nicht nur die Radioshow teilen Dennis und Chris als gemeinsame Erlebnisse. Dennis war bis vor rund zehn Jahren noch Schlagzeuger der seitdem stillgelegten Band Tchi. Chris erinnert sich, wie es zu dem Namen kam: „Wir gingen nachts an einem Tchibo-Geschäft vorbei, und das BO war unbeleuchtet.“ Er schwärmt von Tchi und davon, dass deren letztes Album bei Siloh Records erschien, dem Label von Robert Stadlober aus Wien. „Der ist aber nicht mehr dabei“, weiß Dennis. Und dann erzählen sie von ihrer Teilnahme an der Popkomm in Berlin, der ehemaligen riesengroßen Musikmesse. „Gotthilf Fischer war da“, erinnert sich Dennis. Chris zählt noch Tokio Hotel und Juli auf: „Aber die haben nur ihren Preis abgeholt“, so Dennis. „Und die Mädchen mit den Dirndln“, grinst Chris. Dennis weiß: „Das waren fränkische Weinköniginnen.“ Chris fand kürzlich bei einem Bekannten ein vergessenes Foto von sich wieder, auf dem er ein Pleasure-Syndicate-T-Shirt trug und von jenen fünf Mädchen im Dirndl umringt war. „Das war die Verleihung des Goldenen Musiklöwen oder so was von der Bayrischen Landesregierung“, kramt Dennis aus seinem Gedächtnis hervor. Langsam tropfen die Erinnerungen zurück ins Bewusstsein: „Wir wurden da mit Limousinen hingekarrt vom Hotel.“ Und Dennis erhielt dabei vom Chauffeur einen Anranzer, weil er im Fond durchrutschen wollte, um seiner Freundin Platz zu machen – das gehöre sich nicht. Chris lacht: „Das war so bizarr.“ Die beiden waren dort, weil das Label von Tchi sie eingeladen hatte. „Ich habe ein paar Leute auf die Gästeliste gesetzt“, erzählt Dennis. Chris gehörte indes nicht dazu: „Ich war als DJ geladen.“ Die Show fand an zwei Abenden in einem Hotel am Alexanderplatz statt, dem Park Inn. „Ich saß mit Nora Tschirner am Tisch“, trumpft Chris auf. Dennis und er berichten von diesem eigenwilligen Abenteuer mit dem breitesten Grinsen und machen den Eindruck, erst jetzt zu begreifen, wie absurd das Ganze tatsächlich war.

Dennis geht nun, Chris wirft für heute das Handtuch: Er hat Feierabend. Aline übernimmt und schmeißt den Laden vorübergehend allein mit Paul. Auch ich packe meine Sachen und kehre zurück in die Sonne. Schön, dass es wieder so lange hell ist. Hoffentlich bekommen wir nicht doch noch wieder weiße Ostern, wie vor ein paar Jahren.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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