#154 Rundhaustritt

Dienstag, 21. Juli 2020

Mal wieder auf ‘ne Brause ins Riptide, etwas Sommerfrische abholen. Obwohl die ja in diesem Sommer nicht so erforderlich ist wie beispielsweise vor zwei Jahren. Da war es ja in diesem April schon wärmer als jetzt im Juli. Hat aber was für sich, nicht so angebrannt zu sein und trotzdem draußen sitzen zu können. Durch die Stadt ins Magniviertel, auf dem Weg, vor dem Mezopotamien-Grill, treffe ich Frank und Micha. Erstaunlich genug, dass ich Micha, den ich vor 13 Jahren an der Riptide-Theke im Handelsweg kennenlernte, noch gar nicht im neuen Riptide traf, und auch heute soll es dazu nicht kommen, denn die beiden haben andere Pläne.

Das Magniviertel muss ich erst noch so richtig entdecken, da habe ich bislang noch nicht allzuviel Zeit verbracht. An Galeria-Kaufhof, vulgo: Hochten, vorbei, die Makery passierend, gegenüber in die Langedammstraße einschwenkend, die Braunschweiger Niederlassung des Wolfsburger Tätowierstudios Culture Shocks und das Eiscafé Limonella entdeckend, steuere ich zwischen Rizzi-Haus und Ohlendorf auf einen Eckladen mit einladendem Sitzmobiliar vor der Tür zu. „Simones Seifenmanufaktur“ steht in der Kirchstraße 1 über der Tür, und in dem großen, lichtdurchfluteten und filigran eingerichteten Raum duftet es angenehm unaufdringlich, aber wohlriechend nach – Seife. Das sieht alles so lecker aus, was Simone da ausliegen hat, aber den Drang nach einem herzhaften Biss unterdrücke ich dann aber doch lieber.

Die neuen Nachbarn hat Simone noch gar nicht aufsuchen können, sagt sie, aber: „Ich finde es gut, dass das Café hier ist und das Magniviertel bereichert.“ Eine Mittagspause, in der sie beispielsweise das neue Angebot des Riptide-Mittagstischs wahrnehmen könnte, hat sie nicht: „Ich arbeite durchgehend“, eine erste Angestellte hat sie erst in den kommenden Wochen. Auch im alten Riptide war sie nie: „Das war nicht meine Laufschneise.“ Das verstehe ich, das war das Magniviertel für mich bislang auch nicht unbedingt, auch wenn ich diverse Einrichtungen hier schon kenne, aber eben längst nicht alle.

Ihre Manufaktur hat Simone hier „im fünften Jahr“, berichtet sie, und freut sich: „Es ist von Anfang an gut gelaufen.“ Zudem war sie vom Corona-Lockdown nicht betroffen, da sie Hygieneartikel verkauft. „Ich hatte zwar wenig Laufkundschaft“, sagt sie, nutzte aber das Online-Geschäft als kleinen Ausgleich. Ihr Sortiment ist durchgehend selbstgemacht – und zwar von ihr: „Das sind alles Naturprodukte.“ Von ihr selbstgemacht jedenfalls, was die Seifen betrifft, denn es gibt noch viel mehr zu entdecken: So arbeitet sie mit einer Braunschweiger Keramikwerkstatt zusammen, deren Angebot hier erhältlich ist, und betont dabei, dass es im Laden „keine Chemie“ gebe. Auch ein Pfandsystem für den Gefäßeaustausch bietet sie überdies an. Ergänzend gibt es bei ihr regelmäßig Bilderausstellungen und Vernissagen, nur eben nicht während der Coronazeit – da hängen Gemälde aus ihrem eigenen Wirken an den Wänden. Vielseitig! Den angenehmen Duft erklärt Simone damit, dass sie ausschließlich ätherische Öle für die Herstellung ihrer Seifen verwendet, keine synthetischen. Und sogar Tee und Kaffee verkauft sie, „der Kaffee ist aus einer kleinen Rösterei in Hildesheim und der Tee aus Deutschland, handverlesen“. Außerdem bietet Simone auch noch Workshops an – kein Wunder also, dass sie bislang noch keine Zeit fand, die neuen Nachbarn zu entdecken. Fröhlich verabschieden wir uns.

An den Hintergebäuden von Ohlendorf und einigen privaten Fachwerkhäusern vorbei residiert das Riptide gleich rechts um die Ecke, direkt am Magnikirchplatz. Das nämliche Gotteshaus hat noch mehr Fachwerkhäuser hinter sich zu bieten, mit den wohl höchsten Stockrosen der Stadt und einem von Kids umdumpten Basketballkorb, ungefähr dort, wo das Staatstheater sein „Haus 3“ kürzlich aufgab, und vor sich hektarweise Platz für Draußensitzcafémobiliar und Bocciaspielgruppen. Einige Spieler jonglieren in den Spielpausen mit den schweren Kugeln. Beides muss man können.

Drinnen im Riptide ist weit weniger Trubel, zumindest vor er Theke, denn dahinter findet soeben die Ablösung statt: Anna geht, Sera, eigentlich Serafina, kommt, Selma und Rosa bleiben und Adi, eigentlich Adrian, tritt aus der Küche. „Meine Ma hat mich schon immer Adi genannt“, sagt Adi grinsend. Er ist wie so viele neu im Riptide-Team: „Seit zwei Wochen bin ich hier, zweimal die Woche, ein bisschen Aushilfe“, erzählt er. „Ich hab ‘nen guten Job, in der Jugendhilfe als Koch.“ Jetzt drängt ihn aber das Bedürfnis nach Nikotin: Die Pause ist kurz, und die will er vor der Tür nutzen.

Zeit ist wirklich knapp für das Team: „Hier ist immer genug los für alle“, bestätigt Rosa. „Es gibt kaum Atempause, aber das ist okay – es ist gut, dass das geklappt hat alles.“ Einig, das ist eine Riesenerleichterung, dass sich das Riptide nach all den Querelen mit unverlängertem Mietvertrag und Coronapause mitten im Umzug so auffangen konnte. Unter ihrer Maske sehe ich Rosa grinsen: „Beschäftigt sein ist besser als beschäftigt aussehen – weniger anstrengend.“ Der Zulauf ist sogar so groß, dass abends bisweilen nicht jeder Sitzplatzwunsch in Erfüllung gehen kann, auch der Coronaabstandsregeln geschuldet, deshalb empfiehlt Rosa: „Reservieren!“ Draußen sind alle Tische belegt, drinnen darf es jeder zweite sein, und während der sommerlichen Tage ist es, wie schon am alten Standort, drinnen ohnehin etwas leerer. Mit dem unbestückten Tablett in der Hand kehrt Rosa hinter die Theke zurück und bestückt es mit neuen Bestellungen.

Auf der Ablagezeile längs vor den LP-Fächern liegen orangefarbene Zettel neben einem Stiftständer. „Gegen das Vergessen“, erläutert ein Schild, und fordert dazu auf: „Malt, schreibt, klebt hier für Menschen auf der Flucht.“ Aus einigen der Zetteln wurden Papierschiffchen, die an die Ertrinkenden im Mittelmeer erinnern sollen. Das Riptide bleibt ein Ort für Botschaften, diese stammt von der Initiative Seebrücke.

Auch ein Ort für Botschaften kultureller Art: Im Fenster neben der Tür stapeln sich schon wieder Flyer für Veranstaltungen, und das trotz Coronapause. Einen Stapel habe ich dazugelegt: Jens, der frühere Keyboarder von Phase V, schickte mir sein Solo-Debüt zu, das er unter dem Alias Real veröffentlichte, und legte der CD kleine Flyer mit Werbung bei. Nun ist „Avalon“ schon mal in Papierform im Plattenladen angekommen.

Eigentlich bin ich hier heute mit Arni verabredet, aber der hat dringend eine Deadline einzuhalten und verschob unser Treffen. Am Telefon berichtete er von der Aktion am Freitag, als der Verein BS Oldschool im Lokpark eine Gruftparty mit DJ Jeanny und dem Gothic-Forensiker „Dr.“ Mark Benecke ausrichtete, an der die Gäste lediglich in ihren Autos sitzend teilhaben durften. Arni begleitete das Event als Fotodokumentator und schwärmte in den höchsten Tönen davon, wobei eigentlich angesichts der gruftigen Musikauswahl tiefste Töne angemessener wären. Im Lokpark war ich noch nie, ein angedachter Silver Club dort kam nicht zustande und auch ansonsten verschlug es mich dorthin leider nicht. Für Arni als Fotografen ist die Kulisse ein Geschenk, vielleicht darf ich ihn ja mal auf einer Exkursion dorthin begleiten.

Heute habe ich ja gar keine bestellten Platten abzuholen. Coriky und Tētēma hab ich letztens schon mal mitgenommen, die neuen Alben von Ian MacKaye und Mike Patton. Irgendwas ist aber noch offen – wenn ich das nur alles immer im Kopf hätte. Vor einer Woche wollte ich mich außerdem mit Guido im Riptide treffen, weil wir Fotos von uns machen mussten. Wir hatten nämlich Ehre und Vergnügen, auch an der zweiten Ausgabe eines Buchprojektes mit dem Titel „Ich liebe Musik“ teilzunehmen, und weil nun die Coronapause die geplante Releaseparty in Dresden ausfallen ließ, hatten die Initiatoren Jörg und René die Idee, eine Art Online-Variante davon zu generieren, und baten alle Teilnehmer um Fotos von sich. Das Buch und das Album mit dem Song, den wir dafür ausgewählt hatten, nämlich „Caucasian Psychosis“ von Therapy?, auf der „Potato Junkie“ drauf ist, obwohl die Iren es ursprünglich ja auf der „Pleasure Death EP“ veröffentlichten, die ich aber nicht habe, hatte ich mitgebracht. Da Guido sich aber familienvaterbedingt verspätete, gesellte ich mich zu Hardy und Marc, die wie ich vor dem Riptide auf einen freiwerdenden Tisch lauerten. Da uns nun aber der Durst trieb, wichen wir auf die benachbarte Barnaby’s Blues Bar aus; da gibt es gezapftes Guinness, was womöglich besser zu Guidos und meiner Irlandreisegeschichte und den Fotos passte.

Alsbald saßen wir also zu viert draußen vor der Blues Bar, wir drei Erstsitzenden schon mit ausreichend schwarzem Bier und schwarzem Kräuterlikör auf dem Deckel. Marc und Hardy wollten eigentlich nur ihre anstehenden Lesetermine für das zweite Halbjahr besprechen, doch es dauerte nicht lang, dass wir gemeinsam das Themenspektrum erheblich erweiterten. Und aus welchen Gründen auch immer bei Chuck Norris landeten. „Chuck Norris knallt eine Drehtür zu“, steuerte Guido bei, wir hatten noch „Chuck Norris hat bis unendlich gezählt. Zweimal“ im Kopf, und Hardy offenbarte zu unser aller verwunderter Erheiterung, dass er von der mittlerweile längst schon veralteten Welle der Chuck-Norris-Witze gar nichts mitbekommen habe. Er zweifelte sogar beharrlich die Existenz einer Person namens Chuck Norris an und forderte von uns Titel von Filmen mit ihm ein. Von Marcs Beispiel „Missing In Action“ hatte Hardy noch nie gehört haben wollen, lediglich Guidos Einwand „Walker, Texas Ranger“ ließ Hardy gelten. Da kamen zwei Bekannte von Marc vorbei und bekamen die Diskussion mit, und einer sagte: „Chuck Norris hat in allen ‚Star Wars‘-Filmen mitgespielt. Er war die Macht.“ Hardy schüttelte den Kopf und insistierte, an Marc gerichtet: „Sag mir doch mal einen Filmtitel, wo Chuck Norris mitgespielt hat – außer ‚Star Wars‘!“

Mit meiner Karamell-Fritzkola finde ich auch heute keinen freien Platz vor dem Riptide, aber eine freie Bank. Von hier aus habe ich den perfekten Blick auf den Platz, mit Schirmen und Bäumen über mir und den weißen Wolken auf dem blauen Himmel, die dazwischen durchschimmern. Am reservierten Tisch vor mir nimmt Yvonne Platz, ihre Verabredung kommt etwas später, wie sie ihrem Smartphone entnimmt. Im neuen Riptide ist sie erst zum zweiten Mal, erzählt sie, in den Handelsweg hatte es sie nicht häufiger verschlagen. „Ich find’s toll im Magniviertel“, sagt sie, „eine coole Umgebung, noch zentraler, belebter.“ In der Tat, hier schlendern allenthalben Passanten herum, viele bleiben vor dem Schaufenster stehen und studieren die Riptide-Speisekarte. „Es ist auch schön, dass man hier draußen sitzen kann, unter den Bäumen“, fährt Yvonne fort. Und grinst: „Zu drinnen kann ich noch nicht viel sagen“, denn ihre Cafézeit verbringt sie sommers lieber unter freiem Himmel. „Ein bisschen schade finde ich, dass nur bis 21 Uhr geöffnet ist“, sagt sie und berichtet, dass ihr eine Mitarbeiterin erklärte, dass das zum Schutze der Anwohner so geregelt sei. Sie zuckt mit den Schultern: „Da stellt man sich drauf ein, aber schade ist es schon, gerade im Sommer würde man länger hier sitzen.“ Dann muss man sich eben alternative Anschlussaktivitäten ausdenken. Yvonne bestätigt das: „Beim letzten Mal haben wir eine Parkrunde gedreht, einen verlängerten Weg nach Hause.“ Und dieser Tage kann man dabei ja sogar noch Exponate des Lichtparcours‘ abwandern. Sie nickt und lehnt sich zurück: „Ich finde, dass das Riptide von der Lage her durchaus gewonnen hat.“ Beispielsweise, wenn das Magnifest stattfindet: „Man ist mittendrin, besser geht‘s nicht.“ Einen Unterschied zu früher macht sie aber aus: „Im Handelsweg hat es noch mehr den Charakter von einem Schallplattenladen gehabt, hier ist es eher das nette Gimmick nebenher.“ Stimmt, der Caféanteil ist prozentual deutlich gewachsen – aber dafür finden sich auch mehr Interessierte, und kleiner geworden ist die Vinylabteilung trotz des Augenscheins nicht.

Meine Kola ist leer, ich bringe die Flasche zurück ins Café und schlendere anders aus dem Magniviertel heraus, als ich hereinkam, unter anderem an Badsha und Musik-Mewes vorbei. Beim Googeln lief mir anderntags übrigens noch einer über den Weg, den ich nicht kannte, der sei hier geteilt: „Chuck Norris trinkt aus einem Wasserhahn. Auf ex.“

Matthias Bosenick
www.krautnick.de
Fakebook

2 Kommentare

  1. Heute bzw. gestern gehört: „Chuck Norris ist so schnell – wenn er das Licht ausschaltet, ist er im Bett bevor der Raum dunkel ist.“ Und: „Er macht nicht das Licht an, er macht das Dunkel aus.“

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